Spiel der Schatten (German Edition)
voll zu tun hatten, die Menschen, die sie zunächst in die Bänke gepfercht hatten, nun wieder hinauszutreiben.
Um nicht von ihnen gesehen zu werden, ging Cyn kurzerhand in die Knie und kroch auf allen vieren durch eine der Sitzreihen auf die andere Seite des Saales. Dort wartete sie ab, sich eng an den Boden kauernd, damit sie nicht gesehen werden konnte.
Es war gespenstisch.
Genau wie die Leute, die sie draußen vor dem Theater angetroffen hatte, sprachen auch diese kein Wort. Wie Schafe ließen sie sich von den Packern hinausscheuchen. Nur ihre Schritte auf dem hölzernen Boden waren zu hören, keine Stimmen, kein Gelächter. Unwillkürlich fühlte Cyn sich an ihren Vater erinnert und an die seltsame Apathie, die ihn befallen hatte, ebenso wie Pete O’Rileys Bruder – und sie fühlte, dass sie der Lösung des Rätsels nahe war.
Als sich mit dumpfem Schlag die Türen des Theatersaals schlossen, verharrte Cyn noch einen Augenblick. Dann richtete sie sich ein wenig auf und spähte über die Sitzreihen hinweg. Niemand schien mehr hier zu sein, die Packer hatten den Saal zusammen mit den letzten Besuchern verlassen.
Nun, da auch noch das Poltern der Schritte verstummt war, lag drückende Stille über dem Saal. Cyn beschlich ein seltsames Gefühl, eine Ahnung von Unheil. Wie zuvor kamen ihr Zweifel, aber sie wischte sie energisch beiseite. Sie erhob sich und wollte Richtung Bühne schleichen – als es schlagartig stockdunkel wurde.
Die Gaszufuhr zu dem großen Lüster, der eben noch blendende Helligkeit verbreitet hatte, war offenbar abgestellt worden. Von einem Augenblick zum anderen lag der Saal in tiefer Dunkelheit.
Cyn erstarrte – damit hatte sie nicht gerechnet.
Tapfer kämpfte sie die Panik nieder, die in ihr aufkommen wollte, während sie sich für ihre Unachtsamkeit schalt, weder Schwefelhölzer noch eine Kerze eingesteckt zu haben. Sie spähte in die Dunkelheit – und hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.
Woher es rührte, wusste sie nicht zu sagen, aber es war dieselbe dumpfe Furcht, die sie schon am Abend verspürt hatte, nachdem der Ausrufer ihr das Flugblatt gegeben hatte. Das hässliche Gefühl, dass jemand sie beobachtete.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihre Handflächen wurden feucht. Furchtsam blickte sie in der Dunkelheit umher, während die Frage, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, sich in das Caligorium zu schleichen, wie eine verdorbene Speise in ihr emporstieg. Ihr wurde übel, dunkle Flecken begannen vor ihren Augen zu tanzen – und plötzlich machte Cyn eine verblüffende Feststellung.
Es war gar nicht völlig dunkel!
Nun da sich ihre Augen angepasst hatten, konnte sie erkennen, dass aus dem Orchestergraben schwacher Lichtschein drang. Dankbar huschte Cyn darauf zu, riskierte einen vorsichtigen Blick hinab. Wenn sie jedoch erwartet hatte, dort unten Musiker zu sehen, die ihre Instrumente zusammenpackten, oder zumindest einige Stühle und Notenständer, so erlebte sie eine weitere Überraschung: Der Orchestergraben war so leer, als hätte es nie eine Aufführung gegeben.
Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Cyn runzelte die Stirn. Woher der schwache Lichtschein kam, vermochte sie nicht zu sagen, aber sie beschloss, ihm zu folgen. Kurzerhand kletterte sie über die niedere Brüstung, sprang, so leise sie es vermochte in den Graben, der rund einen Yard tiefer verlief, und gelangte unter die Bühne. Ein hölzerner Treppengang führte nach oben, von dort schien auch das Licht zu stammen.
Lautlos huschte Cyn zu der Treppe und spähte vorsichtig daran empor. Da nichts zu sehen oder zu hören war, stieg sie hinauf, dabei bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend, damit das Holz nicht knarrte.
Mit jeder Stufe gewann das Licht ein wenig an Helligkeit. Cyns Herz schlug heftig, als sie den Bühnenraum betrat. Kein Mensch war zu sehen.
Wo waren die Schauspieler?
Wo die Bühnenarbeiter?
Wo die Beleuchter?
Verwirrt schaute Cyn sich um. Wenn sie an all die Hektik dachte, die im Penny Theatre hinter den Kulissen herrschte, kam ihr diese Stille unmittelbar nach einer Vorstellung geradezu gespenstisch vor.
Zum Zuschauerraum wurde die Bühne von dem schweren samtenen Vorhang begrenzt. Dahinter, im Abstand von wenigen Schritten, verlief etwas, das wie ein zweiter Vorhang wirkte, doch der weiße Stoff war straff gespannt wie die Leinwand eines riesigen Gemäldes, gewiss an die zwanzig Fuß hoch und mindestens doppelt so breit. Dahinter standen
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