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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Schulter. »Suchst du Gesellschaft? Willst du mitkommen?«
    »Nein, danke«, erwiderte sie bestimmt. Sie wollte sich losreißen und davonlaufen, aber der Kerl hielt sie weiter fest.
    »Ich habe da etwas, dass ich dir zeigen möchte, Mädchen«, grollte er. »So viel Zeit solltest du dir nehmen.«
    Cyn war klar, was der Mann vorhatte.
    Er wollte sie in eine dunkle Gasse ziehen, fort von der belebten Straße, um sie dann entweder ihrer Habe zu berauben – immerhin trug sie Schuhe und Kleider, die sich in einer der zwielichtigen Pfandleihen von Smithfield oder Bethnal Green noch für ein paar Shillings verkaufen ließen –, oder um wie ein Wolf über sie herzufallen. Vielleicht auch beides. Nach Einbruch der Dunkelheit wimmelte es in den Straßen Londons von Typen, die sich an wehrlosen Opfern vergreifen wollten.
    »Nein«, sagte Cyn noch einmal.
    »Du willst nicht mitkommen?« Das Gesicht des Einäugigen verzerrte sich missbilligend. »Das gefällt One Eyed Joe aber gar nicht! Er hat es nicht gern, wenn seine Einladungen ausgeschlagen werden, weißt du?«
    Cyn spürte, wie sich der Druck auf ihre Schulter verstärkte und er sie kurzerhand packen und mitziehen wollte. Sie wusste, dass sie handeln musste – wenn es dem Einäugigen erst gelungen war, sie von der Straße zu zerren und in die Ecke zu drängen, war sie verloren!
    Das Herz schlug ihr bis zum Hals, sie war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber sie musste fort, weg von diesem Kerl, und das möglichst rasch. Also ballte sie ihre rechte Hand zur Faust, und statt weiter zu versuchen, sich aus dem Griff des Mannes herauszuwinden, drehte sie sich zu ihm hin und schlug mit aller Kraft zu.
    Ihre Faust traf den Einäugigen genau auf die große, vom Schnaps gerötete Nase. Es knackte hässlich, als der Knochen brach. Der Mann gab ein scheußliches Heulen von sich und ließ instinktiv los. Cyn fuhr herum und begann zu laufen.
    Sosehr sie den Nebel zuvor noch verwünscht hatte, so willkommen war er ihr jetzt. Schon nach wenigen Schritten hatte er sie verschlungen, und die Rufe des Einäugigen, der wütend schrie und zeterte, blieben hinter ihr zurück. Cyn rannte dennoch weiter, vorbei an schemenhaften Gestalten, die für einen Moment aus dem unheimlich leuchtenden Nebel auftauchten, um dann sogleich wieder darin zu verschwinden.
    Das Bahnhofsgebäude hinter sich lassend, hastete Cyn auf die Bloomfield Street zu, die sie irgendwo jenseits der gelben Schwaden vermutete. Ihr Herz pochte noch immer, und plötzlich kamen ihr schwere Zweifel.
    War es klug gewesen, Lucy zu verschweigen, was sie vorhatte? Sie hatte nicht gewollt, dass sich die Freundin unnötig Sorgen machte, zumal Cyn sich selbst nicht sicher war. Aber falls sie verloren ging, würde niemand wissen, wo man nach ihr suchen sollte.
    Cyn überlegte noch, ob sie umkehren und die Sache lieber vergessen sollte, doch in diesem Moment erreichte sie den Finsbury Circus. Die Häuser zu beiden Seiten blieben jäh zurück, und der ovale Platz, der dem Circus seinen Namen gab, öffnete sich vor ihr.
    Cyn verlangsamte ihre Schritte.
    Zwischen den Droschken hindurch, deren Kutscher das weite Rund des Platzes zum Wenden nutzten, wechselte sie die Straßenseite. Mit heftig pochendem Herzen näherte sich Cyn dem Ziel ihrer nächtlichen Wanderschaft.
    Groß und eindrucksvoll schälten sich die Konturen des ehemaligen Century Theatre aus dem Nebel. Über dem Portal mit den Eingängen für die verschiedenen Sitzkategorien – es gab Loge, Parkett und Sperrsitz – prangte hell beleuchtet der Name.
    CALIGORIUM .
    Cyn blieb stehen.
    Nun, da sie hier war, kam ihr das Vorhaben plötzlich abwegig vor. Was hatte sie schon vorzuweisen außer ein paar vagen Vermutungen und dem Gerede eines Betrunkenen? Doch als sie an ihren Vater dachte, an die Furcht, die sie in seinen Augen gesehen hatte, an seine fürchterlichen Schreie, wischte sie alle Bedenken beiseite. Sie war gekommen, um Antworten zu erhalten – und diese Antworten waren irgendwo dort drin.
    Sie fasste sich ein Herz und kramte das zerknüllte Flugblatt aus ihrer Tasche, entfaltete es und strich es glatt in der Hoffnung, dass es noch gültig wäre. Dann überquerte sie die Straße und näherte sich dem Kassenhaus für die billigste Kategorie – nur um eine herbe Enttäuschung zu erleben. Die Kasse war geschlossen.
    SHOW IN PROGRESS stand auf einer kleinen Holztafel zu lesen, die von hinten an das Schalterglas gehängt worden war. Die Vorstellung hatte also bereits

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