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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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so grün und saftig ausnahmen, als wäre Sommer. Und es war warm! Das Sonnenlicht, das durch die Glasscheiben einfiel, heizte das Gebäude auf, sodass Cyn sich genötigt sah, Jacke und Schal abzunehmen. Skulpturen reihten sich aneinander wie in einem römischen Garten, bunte Blumen gediehen, zwischen denen lachende Kinder spielten. Und in der Mitte der Halle, wo sich das walzenförmige Dach wölbte, sprudelte ein Brunnen. Zehn Yards schoss das Wasser hinauf, ehe es wieder herabstürzte und dabei lustig rauschte. Die grauen Mauern und Häuserschluchten Londons schienen plötzlich weit entfernt zu sein.
    »Das ist unglaublich«, gab Milo zu. »An solch einem Ort bin ich schon sehr lange nicht mehr gewesen.«
    »Ich auch nicht«, gab Cyn zu und setzte sich auf die Stufen, die den Brunnen umliefen. Die einfallenden Sonnenstrahlen sorgten dafür, dass sich inmitten der glitzernden Fontäne ein Regenbogen gebildet hatte. »Ich hatte fast vergessen, wie schön es hier ist.«
    Milo erwiderte nichts, was Cyn als Zustimmung nahm. Sie setzte die Puppe neben sich auf die Stufen und schaute den Kindern zu, die zwischen den Farnen umhertollten, mit kurzen Stöckchen kleine Holzreifen vor sich hertrieben oder sich gegenseitig zu fangen versuchten. Dabei lachten sie so laut, dass ein uniformierter Wächter herbeieilte und sie streng ermahnte.
    »Was soll das?«, ereiferte sich Milo. »Warum lässt der Kerl sie denn nicht spielen?«
    »Vermutlich weil er selbst nicht mehr weiß, wie es gewesen ist, ein Kind zu sein«, erwiderte Cyn.
    »Erinnerst du dich daran?«
    »Ja. Ich erinnere mich an viele Dinge. An meine Mutter, wie sie mir die Haare kämmte … an meinen Vater, wie er mich zum ersten Mal auf die Bühne mitnahm … und an das Spielen mit meinen Freunden …«
    »Das muss wunderbar sein.«
    Cyn schaute den Puck fragend an. »Hattest du denn keine Freunde?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weil es nicht möglich war. Mein Vater hätte es mir nicht erlaubt.«
    »Dein Vater?« Cyn schürzte gespannt die Lippen – es war das erste Mal, dass der Junge von seinem Vater sprach.
    »Er hat mir diese Dinge verboten. Er wollte nicht, dass ich mit anderen Kindern herumtolle. Er meinte, es wäre unnütz und töricht, und er hatte recht damit.«
    »Bestimmt«, gab Cyn zu, »aber für Kinder sind eben gerade die törichten Dinge wichtig. Wenn du all das nie getan hast, bist du ja nie ein Kind gewesen.«
    »Unsinn. Natürlich war ich einst ein Kind.«
    »Und dann?«, fragte Cyn vorsichtig. »Wie ist aus dir geworden, was du jetzt bist?«
    »Ich habe es dir einmal gesagt und sage es dir wieder: Das geht dich nichts …«
    Weiter kam er nicht, denn Cyn hatte kurzerhand in den Brunnen gegriffen und den Puck mit Wasser bespritzt.
    »Wa… was soll das?«, fragte Milo verblüfft. »Ich bin ein Schatten! Ich kann nicht nass werden!«
    »Vielleicht nicht«, gab Cyn lächelnd zu, »aber du hast fraglos ein bisschen Nachholbedarf.«
    Damit packte sie den Puck, und zwar nicht wie sonst, indem sie mit der Hand in sein Innenleben fuhr, sondern wie ein kleines Kind unter den Armen. Schon hob sie ihn hoch und schleuderte ihn durch die Luft – und im nächsten Moment rannte sie mit ihm los, mitten unter die Kinder, die sich johlend anschlossen. In einem wilden Zickzackkurs ging es zwischen Pflanzen und Skulpturen hindurch, sodass Milo, der ja an die Puppe gebunden war, aus erster Hand erlebte, wie es sich anfühlte, ausgelassen und fröhlich zu sein.
    »Spielst du mit uns Verstecken?«, wollte ein kleiner Junge mit wohlgenährten Backen wissen.
    »Gerne«, gab Cyn zurück – und schon schlug sie sich mit dem Puck in die Büsche, während irgendwo ein anderer Junge laut bis hundert zählte.
    »Was soll das?«, fragte Milo. »Wozu soll das gut sein?«
    »Psst«, machte Cyn und presste den Zeigefinger auf die Lippen. »Du darfst uns nicht verraten …«
    Im nächsten Moment allerdings war es schon so weit – der Junge, der die anderen suchen musste, hatte Cyn und ihren hölzernen Begleiter entdeckt, und nun war es an ihnen, nach den übrigen Kindern zu suchen.
    So ging es weiter.
    Aus ein paar Minuten wurde eine halbe Stunde.
    Aus einer halben eine ganze.
    Aus einer Stunde schließlich zwei.
    Beim Spiel mit den Kindern empfand Cyn erstmals seit langer Zeit wieder so etwas wie Freude. Zwar beteuerte Milo immerzu, wie albern er das alles fände, jedoch gab er Cyn immer wieder Hinweise, wo Kinder versteckt sein oder wo sie sich selbst verbergen könnten. Und

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