Spiel der Schatten (German Edition)
wenn kein Erwachsener hinsah, machte er sich einen Spaß daraus, als Schatten für allerhand Unfug zu sorgen – einmal, indem er dem Schatten eines vornehm gekleideten Mannes vor aller Augen zwei Hasenohren aus dessen Zylinder wachsen ließ. Die Kinder, die das für einen Trick von Cyn hielten, lachten darüber laut und ausgelassen – und die Bestrafung ließ nicht lange auf sich warten.
Der gestrenge Wärter kehrte zurück und schimpfte, dass die gläsernen Hallen kein Tollhaus seien und dass die Kinderschar, die zuletzt immer größer geworden war, gefälligst draußen weiterspielen sollte. Also ging Cyn mit ihnen hinaus in die Gärten, wo es zwar merklich kühler war, aber nach der fast sommerlichen Hitze, die im Inneren des Kristallpalasts geherrscht hatte, fanden das alle ganz angenehm.
Hier spielten sie nun Fangen. Cyn teilte die Gruppe in Polizisten und Piraten ein, und sie jagten einander durch den Park. Wilde Kämpfe tobten auf den Wegen, die sich durch das Unterholz schlängelten. Auf den Brücken, die die Inseln auf den künstlichen Seen miteinander verbanden, erlebten sie aufregende Abenteuer, was nicht zuletzt an den riesigen, aus grauer Vorzeit stammenden Ungeheuern lag, die diese Inseln bevölkerten.
Auf einer der Inseln lauerte ein Iguanodon, das mit dem stachelbewehrten Rücken wie ein mittelalterlicher Drache anmutete. Gleich daneben duckten sich mehrere geflügelte Kreaturen, die wie riesige Fledermäuse aussahen. In der Mitte des Sees reckte ein Mosasaurus das grausige Echsenhaupt aus dem Wasser, und am Ufer lagen zähnefletschende Krokodile. Ein anderes Tier sah ein wenig aus wie ein Kamel, nur dass es sehr viel größer war, ein anderes ähnelte einem gigantischen Frosch.
»Was sind das für Tiere, Miss Cynthia?« Der pausbäckige Junge, der die ganze Zeit über kaum von Cyns Seite gewichen war und der, wie sie inzwischen wusste, Charles hieß, sah fragend zu ihr auf.
»Tiere wie diese haben einst wirklich auf der Erde gelebt«, gab Cyn zur Antwort. »Vor sehr langer Zeit.«
»Woher weißt du das? Bist du schon so alt?«
Cyn musste lachen. »Nein, das nicht. Aber Gelehrte haben in der Erde versteinerte Knochen dieser Kreaturen gefunden. Und anhand der Knochen haben sie sich überlegt, wie diese Tiere ausgesehen haben könnten.«
»Und das dort drüben?«
Cyn und die anderen Kinder folgten Charles’ Fingerzeig und wandten sich um. Dort befand sich ein weiteres furchterregendes Tier. Es stand auf vier Beinen und war etwa so groß wie ein Elefant, jedoch mit dem Kopf einer Echse.
»Megalosaurus«, las Cyn das Schild vor, das am Wegrand angebracht war.
»Hat dieses Tier auch gelebt?«, fragte ein anderer Junge.
»Bestimmt.«
»Es sieht ziemlich gefährlich aus«, meinte ein Mädchen mit Blick auf die Zähne, die wie Dolche aus dem Maul der Echse ragten. Alle schauderten.
»Keine Sorge«, beschwichtigte Cyn. »Auch wenn diese Kreatur fürchterlich aussehen mag – es ist nur eine Skulptur, eine große Puppe, die ein Mann namens Benjamin Waterhouse Hawkins …«
Weiter kam sie nicht.
Denn in diesem Moment erklang grässliches Gebrüll, und der Schatten des Megalosaurus, der eben noch starr am Boden gelegen hatte, schien sich zu bewegen!
Einen Augenblick lang standen die Kinder so starr, als ob sie selbst modelliert und aus Formmasse gegossen wären.
Dann ergriffen sie schreiend die Flucht, allen voran der pausbäckige Charles.
Selbst Cyn war in einem ersten Reflex versucht, davonzurennen – aber dann hörte sie das schallende Gelächter in ihrem Kopf, und ihr wurde alles klar.
»Du warst das?«, fragte sie und sah vorwurfsvoll den Puck an.
Milo, der bereits wieder zu der Puppe zurückgekehrt war, brauchte einige Augenblicke, um sich wieder so weit zu beruhigen, dass er antworten konnte.
»Ich konnte nicht widerstehen«, prustete er dann. »Du hättest mal eure Gesichter sehen sollen.«
Cyn hatte einen Arm streng in die Hüfte gestemmt. Mit dem anderen hielt sie den Puck auf Distanz. »Du hast die armen Kinder zu Tode erschreckt!«
»Ich weiß!«, gluckste der Schatten weiter. »Und es hat einen Heidenspaß gemacht!«
»Spaß?«, hakte Cyn nach. »Soll das etwa heißen, dass es dir hier gefällt?«
Milos Gelächter endete jäh, und er schien einen Moment nachzudenken. »O… offenbar«, stammelte er, und die Art, wie er es sagte, ließ erkennen, dass er selbst am meisten überrascht darüber war.
Cyns ohnehin nur gespielte Entrüstung verschwand aus ihrem Gesicht, und sie
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