Spiel der Schatten (German Edition)
bis in die dunklen Katakomben des Theaters gedrungen waren, sondern weil sie wie ein fernes Echo in seinem Kopf widerhallten. Und er fühlte ihre Angst.
Was hatte er nur getan? Worauf hatte er sich nur eingelassen?
Seit die Grimmlinge ihn gefasst und ins Caligorium zurückgebracht hatten, dachte er über diese Fragen nach, und immer deutlicher ging ihm auf, dass er im Grunde nur seiner inneren Stimme gefolgt war. Indem er Cyn begleitet hatte, hatte er genau das getan, was er wollte – zum allerersten Mal in seinem Leben.
Anfangs hatte er sich noch dagegen gesträubt, hatte alles abgelehnt, was er dort draußen in der Menschenwelt gesehen und was Cyn ihm gesagt hatte, aber dann …
Er schämte sich.
Vor sich selbst.
Vor allem aber vor seinem Vater.
Hatte er denn tatsächlich alles vergessen, was dieser ihn gelehrt hatte? Hatte die Begegnung mit Cyn ihn wirklich so verändert?
Von allen Dingen, die das Mädchen getan und gesagt hatte, war ihm ein Satz in besonderer Erinnerung geblieben: Einem Schatten die Freude des Lebens näherbringen zu wollen, ist so, als wollte man die Nacht dazu überreden, hell zu werden …
War das wirklich wahr?
Nein.
Milo hatte die Sehnsucht schon sehr viel länger in sich gespürt, den Durst nach Helligkeit, nach Leben. Im Grunde, gestand er sich ein, hatte Cyn ihm nur die Antworten auf Fragen geliefert, die er sich insgeheim längst gestellt hatte. Deshalb war er so bereitwillig mit ihr gegangen. Und deshalb hatte er sich auch auf den Handel eingelassen, den er niemals hätte abschließen dürfen. Und noch einen Grund gab es, auch wenn Milo ihn sich nicht gerne eingestand.
Dieser Grund war Cyn selbst.
Etwas schien ihn mit diesem Mädchen zu verbinden, auf eine Weise, wie er sie nie zuvor …
Er verdrängte den Gedanken rasch.
Zwar hatte er gelernt, sein Innerstes abzuschirmen, aber die Grimmlinge waren überall, und sie waren gut darin, verborgene Gedanken aufzuspüren. Wenn Milo wirklich handeln wollte, dann musste er es tun, bevor die Handlanger seines Vaters etwas davon mitbekamen.
Wie angewurzelt stand er vor dem Behältnis, das bis unter die Decke des Kellergewölbes reichte. Es war aus Stahl gefertigt und eiförmig, um dem Unterdruck standzuhalten, der in seinem Inneren herrschte. Allerlei Schläuche und Leitungen ragten daraus hervor, die wiederum mit einer Reihe von Maschinen verbunden waren, mit Druckmessern und anderen Skalen. Wäre Milo in der Lage gewesen zu riechen, so hätte er den beißenden Geruch von Ammoniak wahrgenommen, der den Raum erfüllte.
Milo glitt an der von einer dünnen Eisschicht überzogenen Stahlhülle empor, um einen Blick durch das kreisrunde, von Nieten gesäumte Fenster zu werfen, das in die Vorderseite des Behältnisses eingelassen war. Auch das Glas war von Eis bedeckt, trotzdem konnte er die Umrisse eines menschlichen Körpers erkennen.
Es war der Körper eines sechzehnjährigen Jungen, nackt und von eher schmächtigem Wuchs, mit langem, dunkel gelocktem Haar, aufrecht stehend, jedoch reglos wie in tiefem Schlaf.
Sein Körper.
Wehmut überkam Milo.
Er erinnerte sich noch gut an den Tag, da ihm dieser Körper genommen worden war. Sein Vater hatte ihm ein Ende allen Schmerzes und aller Trauer versprochen, und er hatte in mancher Hinsicht recht gehabt. In anderer Hinsicht jedoch hatte der Schmerz damit erst begonnen.
Milos Gedanken reisten zurück durch die Zeit, in eine blutige ferne Vergangenheit. Zu seinen Brüdern, die auf dem Schafott der Revolution gestorben waren, zu seiner Mutter, die am Kummer zugrunde gegangen war. Trotzdem fragte er sich, was sie zu all dem hier gesagt hätten. Hätten sie die Pläne seines Vaters gutgeheißen? Hätten sie gewollt, dass er die Schöpfung betrog, um ihren Tod zu rächen?
Milo bezweifelte es.
Dennoch – durfte er tun, was er zu tun im Begriff war? Selbst wenn es bedeutete, alles zu verraten?
Er zögerte.
Bis er erneut die Stimme hörte.
»Los doch«, sagte sie, »worauf wartest du?«
In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass es nicht der Puck war, der auf diese Weise zu ihm sprach, sondern sein Gewissen. Und er traf einen Entschluss.
»Jetzt«, befahl er kraft seiner Gedanken – und der Theaterdiener, der reglos gewartet hatte und darauf abgerichtet war, jede Anweisung Milos oder seines Vaters widerspruchslos zu befolgen, zog an dem Hebel.
Ein Zischen erklang, und aus den Ventilen des stählernen Behältnisses entwich weißer Dampf.
24
VATER UND SOHN
»Nein! Nein! Nein!«
Die
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