Spiel der Schatten (German Edition)
ich nicht längst in Mayfair oder Marylebone in einem eigenen Anwesen, umgeben von einer Unzahl von Lakaien? Ich will es dir sagen, törichtes Kind: weil meine Ziele weiter gesteckt sind. Sehr viel weiter.«
Cyn sah es begehrlich in seinen Augen blitzen. Sie erinnerte sich, dass Milo eine ähnliche Anspielung gemacht hatte, und während sie im einen Moment noch überlegte, was damit gemeint sein könnte, dämmerte ihr bereits die Antwort.
»Ihnen geht es nicht um das Geld«, sprach sie ihren Gedanken laut aus, »sondern um Einfluss, um politische Macht. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn erst die Leute aus St. James ins Caligorium kommen, aus Kensington und Westminster …«
»Sie alle werden der Macht der Laterne verfallen«, stimmte Caligore zu. »Niemand ist dagegen gefeit – noch nicht einmal die Königin.«
»Sie … wollen die Königin durch eine Ihrer Schattengestalten ersetzen?« Cyn stammelte die Worte, noch ehe ihre Bedeutung ihr ganz zu Bewusstsein kam. »Das wird Ihnen nicht gelingen!«
»Wieso nicht? Es ist bekannt, dass die gute alte Vicky hin und wieder ganz gerne ins Theater geht – warum nicht auch ins Caligorium? Wenn sie erst hier ist, wird es ihr und ihren Ministern, ihren Dienern und Leibwächtern ebenso ergehen wie allen anderen. Und dann werde ich es sein, der in Wirklichkeit die Geschicke dieses überaus mächtigen Landes und seiner Kolonien lenkt.«
»Sie sind ja verrückt!«
»Wenn Verrücktsein bedeutet, sich nicht mit den Beschränkungen eines sterblichen Daseins abzufinden und gegen die Überheblichkeit und Dummheit der menschlichen Rasse vorzugehen, dann hast du vermutlich recht«, gab Caligore bereitwillig zu. »Dann bin ich tatsächlich verrückt.«
»Was haben Sie noch vor?«, fragte Cyn, der nun erst das wahre Ausmaß der Bedrohung klar wurde. Hier ging es nicht nur um ihr Schicksal oder um das ihres Vaters oder um das all der anderen Elenden, die Caligores Opfer geworden waren.
Sondern um sehr viel mehr.
»Wer weiß?« Er zuckte mit den Schultern, die so knöchern waren, dass sie sich durch Umhang und Gehrock abzeichneten. »Vielleicht werde ich einen kleinen Krieg vom Zaun brechen. Das Deutsche Reich scheint mir ein ernst zu nehmender Rivale geworden zu sein, ebenso wie das zaristische Russland. Oder vielleicht entreiße ich den Chinesen auch ein paar neue Kolonien. Im Grunde ist es völlig gleichgültig – Hauptsache, die Menschen werden für ihre Torheit bestraft.«
»Was ist nur vorgefallen?«, fragte Cyn fassungslos. »Was haben Ihnen die Menschen angetan, dass Sie sie derart hassen? Was hat Sie zu einem solchen Monstrum gemacht?«
»Nicht ich bin das Monstrum, ihr seid es!«, herrschte er sie an. »Immer wieder habe ich es erfahren, über all die Jahrhunderte hinweg, die ich auf Erden weile.«
»Wovon sprechen Sie?«
Caligore schnitt eine Grimasse, augenscheinlich amüsiert über ihr Unwissen. »Ich wurde am 17 . Februar 1738 geboren«, beschied er ihr. »Ich lebte in einer Zeit, die geprägt war von Tod, Krieg und Untergang – Dingen, die sich die Sterblichen selbst angetan haben.«
»Aber dann … wären Sie ja hundertfünfzig Jahre alt«, rechnete Cyn nach. Zwar hatte Milo ihr erzählt, dass Schatten praktisch unsterblich waren, doch hatte sie bislang nicht wirklich darüber nachgedacht.
»Dieser Körper ist nicht meiner«, erläuterte Caligore, auf seine zerbrechlich wirkende Erscheinung deutend. »Im Laufe der Jahre hatte ich viele Körper, und auch dieser wird mir nicht mehr lange als Zuflucht dienen, der Schatten hat ihn bereits zu weit aufgezehrt.«
»Was … was ist mit den früheren Besitzern dieser Körper geschehen?« Cyn war nicht sicher, ob sie die Antwort überhaupt wissen wollte.
»Notwendige Opfer«, beschied Caligore ihr ohne Bedauern.
»Wie können Sie nur so grausam sein?«
Caligore zögerte einen Augenblick. Sein schmaler Brustkorb hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen, so sehr schien ihn die Frage aufzubringen. »Meine vier Söhne«, antwortete er dennoch, »wurden in Frankreich geboren, zur Zeit der blutigen Revolution.«
»Vier Söhne?«, fragte Cyn verwundert.
Der Professor nickte. »Drei von ihnen verlor ich durch die Schuld der Menschen, durch ihren Wahn von Freiheit und Gleichheit. Ich lebte am Hof des französischen Königs, stand als Gelehrter in seinen Diensten und hatte ein glückliches Leben – bis an jenem schicksalhaften Julimorgen des Jahres 1789 das Unglück über uns hereinbrach. Von diesem Tag an
Weitere Kostenlose Bücher