Spiel der Schatten (German Edition)
Stimme versagte bereits ihren Dienst, dennoch krächzte Cyn weiter, schüttelte heftig den Kopf, als könnte sie sich so dem dunklen Schicksal entziehen, das Umberto Caligore ihr zugedacht hatte. Der Herr der Schatten ließ sich jedoch nicht beirren. Das Ritual, in dessen Verlauf Cyns Schatten von ihrem Körper getrennt werden würde, hatte begonnen.
Unnachgiebig hielten Caligores Schergen Cyn noch immer fest, das Leuchten der Laterne über ihr hatte an Intensität noch zugenommen. Und als der Professor, der sich vor ihr aufgebaut und effektheischend die Arme ausgebreitet hatte, seltsame Worte in einer fremden, dunkel klingenden Sprache zu murmeln begann, fing die metallene Kugel an, sich langsam an ihrer Kette zu drehen.
Ein Fauchen ging durch das Theater, die Schatten wisperten miteinander – Cyn jedoch hörte nur ihre halb erstickten Schreie und das Rauschen des Blutes in ihrem Kopf. Die Angst, die sie vorhin verspürt hatte, hatte sich zu Panik gesteigert. Sie war nicht mehr dazu in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, und es half auch nicht, dass ihr Vater neben ihr stand und weiter beruhigend auf sie einredete.
Immer schneller rotierte die Laterne, warf grünes Licht auf die Bühne. Wind kam auf, der am Vorhang zerrte, der die Kulissen wanken ließ und Caligores Umhang aufblies, sodass der Herr der Schatten noch bedrohlicher und unheimlicher wirkte.
Cyn merkte, wie etwas an ihr zog, aber es war nicht nur der Wind, sondern etwas anderes. Etwas, das nicht von außen kam, sondern in ihr war …
Die Macht der Laterne!
Sie wusste, dass sie gegen diese Macht keine Chance hatte, und doch lehnte sie sich dagegen auf. Sie verschloss die Augen vor dem grünen Licht, versuchte sich dagegen abzuschirmen, aber die Laterne war stärker. Cyn hatte das Gefühl, von unwiderstehlichen Kräften gepackt und fortgerissen zu werden, von Kräften, denen sie hilflos ausgeliefert war. Schon hatte sie das Gefühl, dass sich ihr Körper aufzulösen begann, und die Sinne ihr vor Panik und Furcht schwinden wollten – als plötzlich eine Stimme erklang, so laut und deutlich, dass sie das Rauschen und Fauchen übertönte.
»Einen Augenblick!«
Etwas veränderte sich.
Der Zug, den Cyn soeben noch verspürt hatte, ließ nach, und auch das Leuchten über ihr schien sich abzuschwächen. Cyn öffnete die Augen und sah, dass sowohl Caligore als auch ihre Bewacher nach oben blickten. Unterhalb der hohen Decke verlief der hölzerne Steg, von dem aus während der Vorstellungen die Theaterprospekte herabgelassen wurden.
Dort stand ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren.
Er war auffallend bleich, und das schwarz gelockte Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Bekleidet war er mit der Uniform eines Theaterdieners, die ihm viel zu groß war und nur deshalb nicht an ihm herunterrutschte, weil er sich ein Stück Seil um die schmalen Hüften gebunden hatte.
Seine Gesichtszüge waren bei aller Blässe ebenmäßig und weich, seine Augen von strahlend blauer Farbe. Und obwohl Cyn diesen Jungen noch nie zuvor gesehen hatte, kam ihr etwas an seiner Haltung so bekannt vor, dass ihr schon im nächsten Moment klar wurde, wer dort oben stand.
Es war Milo.
»Was … was hast du getan?«, fragte Caligore hinauf, der nicht weniger überrascht zu sein schien, seinen Sohn in dieser Gestalt zu erblicken.
»Was ich längst hätte tun sollen, Vater«, kam Milos Antwort zurück. Seine Stimme klang, wie Cyn sie in Erinnerung hatte, doch konnte sie sie zum ersten Mal wirklich hören.
»Aber die Zeit ist noch nicht reif dafür!«
»Nein?«, fragte Milo dagegen. »Wird sie denn jemals reif sein, Vater? Oder hattest du vor, mich ewig in diesem Theater gefangen zu halten?«
Ein Raunen ging durch die Reihen der Schatten. Offenbar waren sie es nicht gewohnt, dass jemand auf diese Weise mit ihrem Oberhaupt sprach.
»Törichter Junge, was redest du da?«, schnaubte der Professor, der Cyn für einen Augenblick völlig vergessen zu haben schien. Das Entsetzen in seinen grauen Gesichtszügen wirkte echt. »Was hast du nur getan? Warum hast du deinen Körper aus der Gefrierkammer befreit?«
»Weil ich es leid war, nur ein Schatten zu sein, deshalb«, versetzte Milo trotzig. »Ich will leben, Vater!«
»Leben?« Caligore deutete auf sich selbst. »Sieh mich an, Sohn! Sieh, was aus mir geworden ist! Nennst du das ein Leben? An einen Körper gebunden zu sein, bedeutet auch, dessen Niedergang und Verfall zu erleben, wieder und wieder, und wie ein ruheloser Geist
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