Spiel Der Sehnsucht
daß die Verantwortung für die Ställe von Houghton House eines Tages dir zufallen wird. Wenn du dieser Verantwortung gerecht werden willst, mußt du auf jedes Pferd dort achten ...«
»Das tue ich! Ich liebe alle unsere Pferde!«
Als Lydia, das Hausmädchen, ins Zimmer huschte, nahm Lucy ihr Besen und Kehrblech aus der Hand. Den Besen gab sie Stanley und das Kehrblech Derek.
Dann blickte sie ihre Neffen eindringlich an. »Erst wer-det ihr diese Unordnung beseitigen, und zwar gemeinsam.« Mit einer Geste schnitt sie jeden Einwand ab.
»Danach geht ihr hinüber zu den Ställen und tut jedem einzelnen Pferd, gleich ob Springpferd, Zugpferd oder Pony, etwas Gutes. Das kann ein Apfel sein, eine Hand-voll Hafer oder einfach nur ein liebevolles Streicheln.
Auch das sollt ihr bei jedem Pferd gemeinsam tun. Wenn ihr damit fertig seid, kommt wieder zu mir, dann gehen wir gemeinsam zu eurem Vater. Wir werden ihm erzählen, was geschehen ist und wie wir die Angelegenheit bereinigt haben.«
Alles in allem war das eine gerechte Lösung, fand Lucy. Derek wußte, daß sie ihm eine Züchtigung durch seinen Vater erspart hatte, und lächelte erleichtert. Stanley hatte etwas Neues über seine zukünftige Verantwortung gelernt. Außerdem waren die Ställe sein liebster Aufenthalt.
Lucy seufzte. Sie löste zwar gerne solche Probleme, aber auf Dauer konnte das doch nicht ihr Lebensinhalt sein. Sie faßte in ihre Tasche und befühlte den kostbaren Brief. Es gab noch so viel zu lernen im Leben, doch sie würde nie die Möglichkeit dazu erhalten, fürchtete sie.
Anstatt selbst das Leben zu erfahren, wurde sie mit ihren achtundzwanzig Jahren bereits als alte Jungfer betrachtet und war dazu verurteilt, die Kinder ihres Bruders zu erziehen, damit diese das Leben erfahren konnten.
Doch sie schwor sich, daß es nicht dabei bleiben sollte.
Irgendwie würde sie einen Weg finden, Houghton Manor zu verlassen. Sie hatte ihr eigenes, bescheidenes Einkommen, das ihr Großvater mütterlicherseits ihr hinterlassen hatte. Aber hundert Pfund im Jahr reichten nicht aus, um völlig unabhängig zu sein. Wenn sie eine Möglichkeit fände, etwas hinzu zu verdienen, konnte sie aus dem einengenden Familienkreis heraustreten und sich in der Stadt auf eigene Füße stellen.
Und wieder ein Schrei, diesmal von einem Mädchen.
Sie mußte bald einen Ausweg finden. Sie mußte einfach!
»Sie ist bei den Fordhams zu Besuch«, teilte Hortense Lucy am folgenden Nachmittag mit. »Graham sagt, wir müssen ihr unsere Aufwartung machen, zusammen mit den Kindern, weil sie eine Gräfin ist, sagt er, und weil das Westcott-Vermögen sagenhaft groß ist. Graham sagt, es sei eine große Ehre ...«
»Sie ist eine Gräfinwitwe«, verbesserte Lucy ihre aufgeregte Schwägerin. »Ich habe in der Times gelesen, daß einer ihrer Enkel kürzlich als Graf von Westcott eingesetzt wurde.«
»Nun, ja. Aber Graham sagt, daß dieser Enkel - ihr einziger Enkel - noch unverheiratet ist. Graham hat mir sehr genaue Anweisungen gegeben. Prudence muß ihr schönstes Kleid anziehen und sich der Gräfin von ihrer besten Seite zeigen.«
Lucy versuchte, ihren Unwillen zu verbergen, auch wenn es ihr schwerfiel. Prudence war erst zwölf und noch ein Kind. Und doch wollte Graham schon die Aufmerksamkeit des Grafen von Westcott auf sie lenken?
Lucys Magen zog sich vor Ärger zusammen. Der neue Graf war ein erwachsener und weitgereister Mann, wenn man dem Artikel in der Times glauben durfte. Wie konnte ihr Bruder seine Tochter mit ihm verkuppeln wollen?
Doch dann meldete sich ihr Gerechtigkeitssinn. Jeder vernünftige Vater wünschte sich, daß seine Tochter einen so wohlhabenden und bedeutenden jungen Mann heiratete. Trotzdem hatte sie diese geschäftsmäßig geplanten Eheschließungen immer abgelehnt.
»Warum ist Lady Westcott in Somerset?« fragte sie.
Hortense runzelte die Stirn und zupfte nervös an ihren Spitzenmanschetten. »Ich weiß es nicht, und ich habe Angst, etwas Falsches zu sagen. Du weißt doch, daß ich nie eine richtige Saison hatte. Ich hatte keine Gelegenheit, mich an die Gesellschaft zu gewöhnen. Was, wenn ich etwas tue, für das Graham sich schämt? Er würde mir das nie verzeihen!«
Lucy nahm Hortenses flatternde Hände in ihre eigenen. »Es gibt gar keinen Grund, nervös zu sein, Hortense. Wirklich keinen. Sei einfach du selbst, und alles wird glattgehen.«
Hortense stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du hast leicht reden. Nichts macht dir Angst. Aber ich habe durch
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