Spiel Der Sehnsucht
wie Lady Westcott würde ein Schulmädchen bitten, den Tee auszuschenken? Die arme Prudence hätte keine zwei Minuten unter dem prüfenden Blick der alten Frau durchgehalten.
»Soll ich?« vergewisserte sich Lucy bei Lady Fordham.
»Nun - nun ja, selbstverständlich, meine Liebe. Natürlich, bitte«, antwortete diese. Doch auf ihrem Gesicht spiegelte sich die gleiche Verwirrung wie bei Graham und Hortense. Lucys Mutter jedoch hatte das Gewicht von Lady Westcotts Ersuchen sofort erfaßt und strahlte.
Sie hatte es schon lange aufgegeben, ihre Tochter verheiraten zu wollen. Mit einem Schlag jedoch hatte die Grä-
finwitwe all diese Hoffnungen wieder aufleben lassen.
Lucy wußte nicht, was sie davon halten sollte. Sie hatte gehofft, in Lady Westcott eine muntere Frau zu finden, mit der sie ein intelligentes Gespräch führen konnte, das - über Wetter, Mode, Klatsch und Kinder hinausging.
Dieses Interesse an ihrer eigenen Person hatte sie nicht erwartet.
Sie schenkte den Tee aus, wobei sie von dem Dienstmädchen unterstützt wurde, das die Tassen und Kuchen-teller herumreichte. Lady Fordham plauderte indessen über die Auslandsreise ihres Enkels und über die Vielfalt der neuen Rosensorten, die neuerdings jedermann entzückten.
Graham versuchte vergebens, Lord Fordham in ein Gespräch über einen komplizierten Gerichtsfall zu verwickeln, der in der Presse Aufsehen erregt hatte. Der Lord brachte in Gesellschaft der Damen kaum ein Wort über die Lippen. Sein Schweigen und Lady Westcotts Wortkargheit machten es für Lady Fordham immer schwieriger, die Konversation aufrecht zu erhalten. Hortense war von Lady Westcotts Persönlichkeit so eingeschüchert, daß sie nichts zu sagen wagte. Seit der Begrüßung hatte sie kein Wort zur Unterhaltung beige-tragen. Lucys Mutter, sonst sehr gesprächig, war von der Vision eines möglichen Schwiegersohns, der einen Grafentitel trug, so überwältigt, daß sie nur noch stumm auf Lucy starrte.
Lucy wurde gewahr, daß es nun an ihr lag, das sich zäh dahinschleppende Gespräch wieder zu beleben. Zu ihrem Bedauern durfte sie dabei ihrer Neugierde über Lady Westcotts Enkel nicht freien Lauf lassen.
Sie war erleichtert, als die Gräfinwitwe ihr Schweigen brach. »Hatten Sie schon eine Saison, Miss Drysdale? Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie bei Hofe vorgestellt worden sind.«
»Meine Anwesenheit in der Stadt ist ziemlich unterge-gangen. Das war 1819, kurz bevor der alte König starb.«
»Ach ja. Ich war in jenem Jahr nicht in London.«
»Nun, da haben Sie auch nichts verpaßt. Es sei denn, Sie stünden auf gutem Fuß mit Lady Nullingham. Es war schließlich auch das Jahr ihres, man könnte sagen, Em-porkommens.«
Lucys Mutter schnappte nach Luft, und Hortense fing wieder an, sich zu fächeln. Lady Nullinghams öffentlicher Sündenfall war keineswegs ein Thema für eine gepflegte Konversation in gemischter Gesellschaft. Lucys Absicht war es jedoch, Lady Westcott zu schockieren oder zumindest aus der Reserve zu locken.
Der Funke von Humor, der in Lady Westcotts Augen aufglomm, überraschte sie kaum. »Ich habe diese Geschichte oft gehört, sie soll sehr amüsant gewesen sein. Ich bedaure es, daß ich nicht selbst dabei war«, meinte Lady Antonia. Dann erhob sie sich abrupt. »Ich würde gerne ein wenig im Garten Spazierengehen, Miss Drysdale. Gewähren Sie mir dabei ein wenig Ihre Unterstützung«, sagte sie und streckte Lucy den Arm hin.
Verblüfft beeilte Lucy sich, dem Wunsch Folge zu leisten. Als auch die anderen sich erheben wollten, winkte Lady Westcott ab.
»Bemühen Sie sich nicht. Ich möchte mich ein wenig mit Miss Drysdale unterhalten, das ist alles. Gladys, laß frischen Tee bringen. Ich möchte noch eine Tasse - diesmal etwas heißer -, wenn ich zurückkomme.« Ohne weitere Erklärung wandte die alte Dame sich ab und mar-schierte, mit Lucy an ihrer Seite, zur Tür.
Lucy hatte auf eine Abwechslung gehofft. Nun hatte sie eine. Was auch dabei herauskommen würde, sie nahm sich vor, jede Minute zu genießen.
3
Lucy ahnte nichts von Lady Antonias Verzweiflung.
Denn verzweifelt mußte sie sein, um Lucy Drysdale einen so außergewöhnlichen Vorschlag zu machen, nachdem sie das Mädchen doch gerade erst kennengelernt hatte!
Doch Lucy war kein Mädchen mehr, sie war eine Frau - eine attraktive junge Frau mit lebhaftem Verstand, scharfem Witz und spitzer Zunge. Das war zwar nicht viel, doch Antonia war überzeugt, daß Ivan sie mögen würde. Sie war sogar
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