Spiel Der Sehnsucht
hinter sich lassen zu können«, bemerkte Lady Antonia.
Lucy lächelte ihre Wohltäterin an. »Es ist nicht so sehr der Wunsch, Somerset zu verlassen, als die Freude, wieder in die Stadt zu kommen. Mir ist...« Sie hielt inne und suchte nach passenden Worten, da sie ihre Familie nicht in einem schlechten Licht darstellen wollte. »Ich fühle mich ein wenig eingeengt auf dem Land.«
Lucy spürte den durchdringenden Blick der Gräfinwitwe auf sich ruhen. »Sie wollen damit sagen, daß Sie sich zu Tode langweilen. Ich versichere Ihnen, Miss Drysdale, daß Sie sich in London nicht langweilen werden.
Sie werden alle Hände voll zu tun haben mit Valerie.«
»Ist sie sehr eigensinnig?«
Lady Westcott schnaubte verächtlich. »Eigensinnig?
Keineswegs. Sie ist eher so still wie eine Maus, und genauso schreckhaft. Sie bemüht sich sehr, es allen recht zu machen.« Sie hielt inne und rümpfte die Nase. »Nur traut sie sich nie, im Mittelpunkt zu stehen.«
Lucy nickte. »Das klingt nach einem mittleren Kind.«
»Das ist sie tatsächlich. Sie ist das vierte von sieben Kindern. Sieben Kinder! Kein Wunder, daß ihre Mutter schwache Nerven hat.«
Lucy lächelte und freute sich, daß sie richtig geraten hatte. »Ich habe oft festgestellt«, meinte sie, »daß eine mittlere Tochter meist das stillste Kind in der Familie ist, immer bemüht zu gefallen und dadurch in Gefahr, sich selbst zu verlieren.«
»Sich selbst zu verlieren?« fragte Lady Westcott zweifelnd. »Was soll das heißen?«
»Das gehört zu einer Theorie über Kinder, über die ich viel nachgedacht habe«, erklärte Lucy und schob vertei-digend ihr Kinn vor.
»Eine Theorie über Kinder? Was wissen Sie denn über Kinder? Sie haben doch selbst keine, oder?«
»Man muß nicht unbedingt Mutter sein, um etwas von Kindern zu verstehen«, gab Lucy schnippischer zurück, als sie eigentlich beabsichtigte. »Ich war selbst ein Kind, und ich habe geholfen, viele andere Kinder aufzuziehen - nicht nur die Bande meines Bruders.«
»Sie müssen nicht in diesem aggressiven Ton mit mir sprechen, Mädchen. Ich habe nicht Ihre Intelligenz in Frage gestellt. Wenn ich Sie nicht für außerordentlich klug hielte, hätte ich Ihnen sicher nicht diese Position angeboten.«
Die alte Dame schürzte ihre Lippen und musterte Lucy eingehend. »Nachdem Sie so an Kindern interessiert sind und an den Gründen, warum sie dies oder jenes tun, kann ich Ihnen gleich etwas über Ihre Pflichten gegen-
über Valerie erzählen. Sie ist so nachgiebig, daß sie leicht von einem der jungen Männer, die sich heutzutage Gentleman nennen, vom rechten Weg abgebracht werden könnte. Und leider werden sie alle hinter ihr her sein. Sie ist das hübscheste Mädchen, das Sie je gesehen haben.
Blond, zerbrechlich und mit einem Vermögen, das zwar nicht riesig, aber immerhin beträchtlich ist. Ihre wichtigste Aufgabe wird es sein, unpassende Bewerber von ihr fernzuhalten.«
Sie hielt einen Augenblick inne und krampfte die knochigen Hände um den Knauf ihres Stockes. »Und der unpassendste von allen ist mein eigener Enkel.«
Das gab Lucy zu denken. Ein lediger Graf sollte kein geeigneter Heiratskandidat sein? Ihre lebhafte Fantasie setzte sich in Bewegung. Lady Westcott hatte ihn bereits einmal als ihren widerspenstigen Erben bezeichnet. War er etwa einer dieser jungen Männer, die sich in unpas-sendem Benehmen gefielen? Sie erinnerte sich solcher Männer, die sie während ihrer eigenen Saison kennengelernt hatte - die Verschwender; die Vergnügungssüchtigen; Männer, die sich allen Lastern ergaben und sich in den niedrigsten Lustbarkeiten ergingen. Kluge Mütter hielten ihre Töchter von dieser Sorte Männer fern, mochten sie aus noch so guten Familien stammen.
Doch ein Graf? Und noch dazu ein Graf mit einem solch immensen Vermögen?
Sorgfältig wägte sie ihre Worte ab. »Was genau ist es denn, das Ihren Enkel für eine junge Dame wie Lady Valerie so unpassend macht?«
Lady Antonia schaute frostig drein. »Er ist völlig unaufrichtig in seinen Absichten. In den letzten Monaten hat er das Herz so mancher Frau gewonnen, nur um sie dann zurückzustoßen.«
Das machte ihn doch nicht unpassend, dachte Lucy.
Schwierig vielleicht, aber nicht völlig unpassend. »Vielleicht fürchtet er, daß die Frauen sich mehr für seine Titel oder sein Vermögen interessieren als für ihn selbst. Ich habe ein wenig über ihn gehört«, gab sie zu. Wer wußte nichts von den Gerüchten über diesen unehelichen
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