Spiel Der Sehnsucht
herrschte völlige Stille.
Dann sog der Graf tief die Luft ein, und Lucy machte sich auf das Schlimmste gefaßt.
Anstatt jedoch wutentbrannt auf sie zuzuspringen, vollführte er eine Verbeugung vor ihr - eine korrekte, wenn auch etwas knappe Verbeugung. Ungläubig blinzelte Lucy. Was hatte das zu bedeuten? Sie mußte auf der Hut sein.
Von seinem Gesicht konnte sie nichts ablesen. Es war völlig unbewegt, genauso wie seine Stimme, als er schließlich sprach.
»Bitte um Verzeihung, Madam. Ich habe das mehr als verdient. Ich kann nur hoffen, daß Sie über mein ungebührliches Betragen hinwegsehen können.«
Lucy brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln.
Eine Entschuldigung war das letzte, was sie von diesem gefährlich gutaussehenden Mann erwartet hatte. Allerdings war sie davon überzeugt, daß diese Entschuldigung absolut unaufrichtig war.
Sie richtete sich hoch auf und zerrte wütend an dem Schößchen ihres zerknitterten Reisekostüms. »Ich bin niemals - niemals! - in meinem Leben so grob behandelt worden!«
Ivans Gesicht blieb unbewegt, doch wenigstens sah er sie jetzt an. Es fiel Lucy auf, daß die Gräfinwitwe ungewohnt still geblieben war, doch sie sah nicht zu ihr hin, denn sie wollte keinesfalls den Blickkontakt mit dem Grafen abbrechen und dadurch an Boden verlieren.
Wenn sie ihm so oft begegnen würde, wie Lady Westcott es angedeutet hatte, so mußte sie die Grenzen ihrer Beziehung gleich am Anfang deutlich machen.
Während sie sich gegenseitig fest im Auge behielten, glaubte Lucy zu bemerken, daß die Lippen des Grafen sich leicht kräuselten. Aber vielleicht irrte sie sich auch.
»Darf ich fragen, wen ich da so grob behandelt habe?«
fragte er und zog dabei eine Augenbraue empor.
Lucy nahm an, daß die Gräfinwitwe sie vorstellen würde, wie es sich gehörte. Als diese sich jedoch nicht rührte, beschloß sie, sich selbst vorzustellen. »Ich bin Miss Lucy Drysdale von Houghton Hall in Somerset.«
»Miss Lucy Drysdale«, echote er, wobei er das >Miss< betonte. Wieder ließ er seinen Blick ausgiebig über ihre Gestalt wandern. Noch ehe sie gegen diese Unverschämtheit protestieren konnte, machte er eine erneute Verbeugung. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Ich bin Ivan Thornton, Graf von Westcott, etcetera. Sie sagten, es gäbe einen triftigen Grund für Ihre Anwesenheit?«
Wieder hob sich fragend die Augenbraue, doch Lucy sah die Arroganz hinter der ausdruckslosen Fassade seines Gesichtes lauern. Der Elende bedauerte seine verlet-zenden Worte ebensowenig wie sie den Schlag, den sie ihm versetzt hatte.
»Ich bin hier, um Lady Valerie - Ihre Kusine, nicht wahr? - während der Saison als Anstandsdame zur Seite zu stehen, sie vor unpassenden Anwärtern abzuschirmen.«
»Anwärter wie ich?« fragte er grinsend, und in diesem einen Augenblick überkam Lucy die Erkenntnis, daß diese kleine Bewegung seiner Lippen über schönen, starken, weißen Zähnen hinreichte, um all ihren Ärger in sich zu-sammenfallen zu lassen. Wie ein unerfahrener, schmachtender Backfisch reagierte sie auf dieses Lächeln, auf diese Anziehungskraft, vor der seine Großmutter sie gewarnt hatte. Ihr Herz klopfte schneller, ihre Wangen röteten sich. Und das alles wegen eines Lächelns.
Sie stöhnte innerlich, während sie versuchte, ihre äu-
ßere Fassung nicht preiszugeben. Streng blickte sie ihn an. »Wenn dies ein Beispiel Ihres üblichen Benehmens ist, dann wären Sie allerdings für jede junge Dame unpassend.«
Diesmal lachte er hell heraus, obwohl Lucy ihre Worte durchaus nicht humorvoll gemeint hatte. Noch ehe ihr eine angemessene Antwort einfiel, brach Lady Westcott ihr Schweigen.
»Es ist sinnlos, mit meinem Enkel zu diskutieren, Miss Drysdale; es führt zu nichts. Sein größtes Vergnügen ist es, mich zu argem. Da ich dieses Spiel nicht mitspiele, fürchte ich, daß nun Sie sein nächstes Opfer sein werden.
Am besten wird es für Sie sein, ihn zu ignorieren.«
Lucy hatte den Grafen nicht aus den Augen gelassen, während Antonia sprach, und bemerkte daher, wie ein Schatten der Abneigung über sein Gesicht zog. Als er auf die Worte seiner Großmutter reagierte, waren seine Worte jedoch an Lucy gerichtet. »Meine Großmutter hat möglicherweise recht, Miss Drysdale. Schließlich kennt mich niemand länger als sie. Nun, wenn Sie beide mich entschuldigen würden? Ich habe das Haus voller Gäste.
Wenn ich zu lange ausbleibe, suchen sie womöglich nach mir. Und ich denke, das wäre für Sie kein
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