Spiel Der Sehnsucht
während der Fahrt sein Bein dort, wo es hingehörte. Unterwegs erklärte er den beiden Frauen alles, was es an Interessantem zu sehen gab: Constitution Hall, die Clubs entlang der Pall Mall und Charing Cross. Dann wandten sie sich in die Williams Street und verlangsam-ten ihre Fahrt vor einem dreigeschossigen, ein wenig her-untergekommenen Backsteingebäude.
»Dies ist die Fatuielle Hall«, erklärte Ivan. »Weshalb wollten Sie sie sehen? Es finden nur noch wenige Amü-
sements hier statt.«
»Ich habe gehört, daß hier oft Vorlesungen gehalten werden. Vielleicht kann ich einer beiwohnen«, antwortete Lucy.
»Ah, ja, Sie erwähnten das gestern abend. Sagen Sie, Miss Drysdale, kann es sein, daß Sie ein Blaustrumpf sind?«
Lucy machte ihren Rücken steif. »Ich muß sicher nicht betonen, daß viele Damen sich durch eine solche Bemerkung gekränkt fühlen würden.«
»Aber Sie nicht«, beharrte Ivan und sah ihr so lange und eingehend in die Augen, daß Lucy kaum ihre Nervosität unterdrücken konnte. Endlich hielt sie es nicht mehr aus und wandte ihren Blick dem schäbigen Gebäu-de zu, als sei sie von dessen nichtssagender Architektur fasziniert.
Ivan stieß ein leises Lachen aus und trieb die Pferde an.
Doch Lucy hatte genug Zeit gehabt, um einen Zettel an der Tür zu entdecken, der Sir James Mawbeys erste Vorlesung für den neunzehnten Mai ankündigte. Das war morgen. Sie hielt diese Information fest wie einen Schild, der sie vor ihren wirren Gefühlen gegenüber Ivan Thornton schützen sollte.
Zu Lucys Glück unterhielt Lord Westcott sich für den Rest der Fahrt vornehmlich mit Valerie. Diese hatte inzwischen genug Mut gefaßt, um eine normale Konversation mit ihm zu führen, und als sie wieder vor Westcott House angelangt waren, waren Lucys Besorgnisse weit-gehend geschwunden, zumindest, soweit sie Ivans drei Freunde betrafen. Möglicherweise waren ein paar Verehrer genau das richtige Mittel, um Valeries schwaches Selbstvertrauen ein wenig zu kräftigen. Vielleicht würden Lord Westcotts Freunde mehr nützen als schaden.
Schließlich mußte, eine junge Frau lernen, wie man unwillkommene Verehrer abweist, ohne dabei die Regeln der Höflichkeit zu verletzen.
Lucy nahm sich vor, alles zu tun, um ihren Schützling mit jungen Männern bekannt zu machen, die genügend Ansehen besaßen, um Valeries Familie und Lady Westcott zufriedenzustellen. Und mit ein wenig Glück war vielleicht einer darunter, der zudem Geist und einen guten Charakter besaß.
Lucy und Valerie verbrachten den Nachmittag in Lady Westcotts Gesellschaft und suchten mit ihr mehrere vornehme Adressen auf, architektonische Meisterstücke, die von Reichtum, Macht und langen Ahnenreihen kündeten. In den meisten Häusern hinterließen sie nur ihre Visitenkarten. In dreien jedoch empfing man sie und bot ihnen Erfrischungen an. Die drei Gastgeberinnen waren in Lady Westcotts Alter und gehörten offensichtlich zu ihren besten Bekannten. Die Viscountess Talbert war mit ihr durch Heirat verwandt. Die Gräfin von Grayer gehör-te zu den tonangebenden Damen der städtischen Gesellschaft, während die Herzoginwitwe von Wickham schlicht die Herzoginwitwe von Wickham war.
Diese drei bedeutenden Frauen waren aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Lady Westcott, und Valerie war von ihnen genauso eingeschüchtert wie von ihrer Patentante.
Lucy war es sofort klar, daß diese drei Damen Valerie eine große Hilfe sein konnten. Darüber hinaus war sie selbst von ihnen fasziniert. Diese Frauen hatten es geschafft, sich in einer von Männern beherrschten Welt einen Platz zu erobern und sich darin zu behaupten. Wie aus einer Frau eine starke Frau wurde, das wäre ein interessantes Thema, das sie gerne mit Sir James diskutieren würde. Sie konnte es kaum erwarten.
Als sie wieder in Westcott House waren, steuerte Lucy sofort auf ihr Ziel los. »Lady Westcott, erinnern Sie sich, daß ich gerne mit Lady Valerie einige Vorlesungen besuchen würde?«
»Einige? Von einigen war nicht die Rede.«
Lucy zwang sich, nicht zu diskutieren. »Morgen nachmittag findet die erste statt.«
»Wir müssen morgen zur Modistin zur Anprobe.«
»Es ist um elf Uhr vormittags.«
»Wir sind außerdem zum Tee bei Lady Hinton einge-laden. Sie ist Sir Roberts neueste Frau, und ich will unbedingt die Veränderungen sehen, die sie in seinem Stadthaus vorgenommen hat. Lady Talbert sagte, das Haus sehe jetzt wieder genauso aus wie bei seiner dritten Frau.
Und ich muß unbedingt herausfinden,
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