Spiel Der Sehnsucht
dann trat sie zweimal ins Fettnäpfchen, indem sie die Herzogin von Wickham und die Viscountess Tal-bot mit den falschen Titeln ansprach. Daß Lady Westcott sie dafür scharf in den Arm kniff, war ihr auch keine Hilfe, sondern verschüchterte das arme Mädchen so sehr, daß es kaum noch ein Wort hervorbrachte.
Zum Glück kümmerten ihre zahlreichen Bewunderer sich nicht darum. Sie war so vielen eifrigen jungen Grafen, Baronen und Rittern vorgestellt worden, daß es sogar Lucy schwerfiel, sie alle auseinanderzuhalten.
Im Augenblick tanzte Valerie einen schwungvollen Galopp mit dem ehrenwerten ehester Davies. Mit einem weniger einschüchternden Tanzpartner als Ivan Thornton hatte das Mädchen keine Probleme, Schritt zu halten.
Die zwei waren ein hübsches Paar, stellte Lucy von dem Platz aus fest, an dem sie mit anderen Anstandsdamen stand. Andererseits sah Valerie so lieblich aus, daß ihr Glanz auf jeden Tänzer abfärben mußte, mit dem sie sich auf dem Parkett befand.
Lucy summte zur Musik, als plötzlich ein leises, aber unüberhörbares Raunen durch den Saal ging.
»Sehen Sie?« hörte sie eine Stimme zu ihrer Linken.
»Ich sagte doch, daß er kommen würde.«
»Mylady hat mir strikte Anweisung gegeben, daß mein Mädchen zwar mit ihm, aber nicht mit einem seiner Trabanten tanzen dürfe«, sagte eine andere Stimme.
»Nicht einmal mit dem, von dem es heißt, er wäre ein Bastard des Königs?« fragte wieder die erste.
Lucy brauchte nicht länger zuzuhören. Es gab nur einen Mann, der, auch ohne daß sein Name genannt wurde, sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Ivan war mit seinen Freunden aus dem Hyde Park angekommen. Das vierblättrige Kleeblatt.
Nervös strich Lucy ihren adretten Haarknoten glatt, holte tief Luft und versuchte sich wieder zu beruhigen.
Mit etwas Glück war Valeries Tanzkarte bereits voll.
Wenn nicht ... Nun, dann konnte Valerie trotzdem nicht viel passieren, wenn sie mit Ivans Freunden tanzte. Sie schien bei den meisten wohlangesehenen jungen Männern bereits einen Stein im Brett zu haben, und falls einige wenige Snobs einen Tanz mit Ivans Freunden mißbilligten, so würde das nichts weiter ausmachen.
Die Galoppreihe wirbelte mit gebauschten Kleidern aus Seide, Satin und Musselin an Lucy vorüber. Doch Lucy sah den Tänzern nicht mehr zu. Statt dessen hielt sie möglichst unauffällig nach dem Quartett Ausschau.
Wo waren sie?
Nein, wo war Ivan?
Obwohl Lucy sich um den Grafen von Westcott eigentlich nur bekümmern durfte, soweit Lady Valeries Belan-ge betroffen waren, mußte sie sich eingestehen, daß ihr Interesse weit darüber hinaus ging. Selbstverständlich war das närrisch, und Lucy hätte viel darum gegeben, sich einreden zu können, daß dieses besondere Interesse nur mit ihrer allgemeinen Wißbegierde zusammenhinge, die Charaktere und Motive anderer Menschen zu erfor-schen.
Doch so war es eben nicht. Er interessierte sie deshalb, weil die Berührung seiner Hüfte nicht nur ihre Hüfte, sondern ihr ganzes Sein erwärmt hatte. Weil er vor einigen Nächten vor ihrer Schlafzimmertür gestanden war und sie sich eingebildet hatte, sein Atem habe sie gestreift. Weil er klug und gerissen war und die ganze Gesellschaft noch weit mehr verachtete, als sie es tat.
»Das ist es, was junge Frauen ruiniert«, murmelte sie halblaut. Solche unangebrachten Fantasien hatten schon viele Mädchen ins Elend gebracht.
»Was haben Sie gesagt?« fragte eine Anstandsdame mit Spitzenhaube, die neben ihr stand. »Einer von denen hat eine junge Frau ruiniert?«
»Nein, nein«, erwiderte Lucy hastig. »Ich sagte, der Maifeiertag wäre ruiniert, falls es regnen sollte.« Ihre Nachbarin schüttelte den Kopf und blickte sie skeptisch an.
Lucy schenkte ihr ein knappes Lächeln und wandte sich ab, um nach Valeries Blondschopf Ausschau zu halten. Auf der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche entdeckte sie Lady Westcott mit ihren Freunden Laurence Caldrige, Lord Dunleith und der Viscountess Talbert.
Lord Dunleith schien etwas in Lady Westcotts Ohr zu flü-
stern, während diese auf jemanden starrte, der sich auf Lucys Seite des Raumes befinden mußte.
Das konnte nur Ivan sein. Lucy hätte sich am liebsten hinter der Menschenmenge versteckt, damit er sie nicht entdeckte. Doch eben jetzt hörte die Musik auf, und Mr.
Davies brachte Valerie zu Lucy zurück.
Ivan und seine berüchtigten Freunde erspähten sie sofort und folgten ihr. Lord Westcott schenkte Lucy einen anerkennenden Blick, seine
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