Spiel der Teufel
die er nur bekam,
weil die Dame hinter dem Tresen ihn persönlich kannte,
denn normalerweise wurde nach dreiundzwanzig Uhr kein
Alkohol mehr verkauft. Aber er brauchte es jetzt, um klarer
denken zu können. So redete er es sich jedenfalls ein.
Mit aufheulendem Motor und durchdrehenden Reifen raste
er von der Tankstelle und erreichte seine Wohnung nur fünf
Minuten später.
Petrowa blieb noch eine halbe Stunde in ihrem Büro, bevor sie
ebenfalls nach Hause fuhr. Sie hatte einen langen und sehr aufreibenden
Tag hinter sich und wollte nur noch schlafen. Und
schon übermorgen würde eine weitere Lieferung eintreffen,
zwei Container mit insgesamt fünfunddreißig Personen, bestimmt
für Kliniken in der Nähe von Berlin, Aachen, Frankfurt
am Main und München. Ankunft in Rostock, von dort
Weiterfahrt nach Kiel, wo sie die Nacht verbringen würden,
um am nächsten Tag verteilt zu werden. Die Logistik funktionierte
hervorragend, es war ein riesiges Getriebe, in dem auch
die winzigsten Rädchen perfekt ineinanderpassten. Und das
war zu einem großen Teil ihr Verdienst, denn gerade was die
Organisation der Lieferungen betraf, gab es niemanden, der ihr
das Wasser reichen konnte. Und wie hatte Luschenko erst
kürzlich gesagt - »Du bist meine beste Frau, von dir können
die Männer noch lernen.«
Diese Worte waren nicht nur ein Kompliment, sie waren mehr,
sie kamen einem Ritterschlag gleich, denn Luschenko galt als
äußerst kritisch und war bekannt dafür, mit Lob sehr sparsam
umzugehen.
Sie betrachtete noch einmal die Bilder an der Wand, löschte das
Licht, zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Ein letzter
Blick in den großen Raum, wo die Neuankömmlinge sich noch
immer am Büfett delektierten. Sie wünschte allen eine gute
Nacht und sagte, sie würde morgen wieder vorbeischauen. »Es
wird alles gut«, sagte Petrowa freundlich. »Keiner von euch
braucht sich zu sorgen.«
Auf dem Weg zu ihrem Auto lächelte sie einen Wimpernschlag
lang maliziös und dachte: Ja, es wird alles gut - für die Firma
und für mich. Und hinterher braucht sich wirklich keiner von
euch mehr zu sorgen.
Das Geschäft boomte.
DONNERSTAG, 2.10 UHR
Er befand sich auf einer unendlich weiten Wiese. Der Himmel
war grau bis zum Horizont, die dunklen Wolken schienen an
einigen Stellen den Boden zu berühren, ein einsamer blattloser
Baum mit tief herabhängenden Ästen stand wie ein Skelett in
der Mitte. Nichts sonst, nur diese Wiese mit dem unnatürlichen
Grün, die Wolken, der Baum, und er.
Er trug nichts als einen grünen Kittel und bewegte sich auf den
Baum zu, doch seine nackten Füße schienen auf dem weichen
Boden zu kleben. Nur ganz langsam kam er voran, und es kostete
ihn eine Menge Anstrengung. Er wollte schneller laufen,
schaffte es aber nicht. Mit einem Mal stand er vor einem breiten
Graben, den er vorher nicht bemerkt hatte, und als er hineinblickte,
zuckte er erschrocken zusammen. Der Graben war in
seiner vollen Länge und Breite gefüllt mit unzähligen Organen
- Lebern, Nieren, Bauchspeicheldrüsen, Lungen, Herzen, Gedärmen,
dazwischen Augen, die ihn flehend ansahen und aus
denen zum Teil Tränen flossen. Bei noch genauerem Hinsehen
erkannte er, dass die Organe nicht tot waren, sondern lebten -
die Lungen bewegten sich, als würden sie atmen, die Herzen
schlugen in gleichmäßigem Takt, ja, alles bewegte sich, obwohl
es eigentlich nicht hätte sein dürfen, obwohl es dem Gesetz der
Natur widersprach. Er wollte den Blick abwenden, doch er
schaffte es nicht, es war, als würde ihn jemand zwingen, immer
weiter hineinzuschauen. Und schließlich sah er Körper, aufgeschnittene
Körper, Babys, Kinder, Jugendliche, Erwachsene,
Männer und Frauen, entstellt von unzähligen chirurgisch sauber
durchgeführten Schnitten. Bei näherem Betrachten aber
bemerkte er, dass die Arme und Beine zuckten, obwohl die
Körper doch tot waren. Blut stieg auf und sammelte sich um
ihn, als wollte es ihn verschlingen.
Was er sah, war ihm unheimlich, Furcht überkam ihn, und er
wollte um den Graben herumgehen, aber etwas, das er nicht
sah, hinderte ihn daran. Und dann fühlte er einen Druck in
seinem Rücken, verlor das Gleichgewicht und fiel in das Meer
aus Leibern, Organen und Blut. Er meinte wehklagendes Weinen
zu vernehmen, das immer lauter und lauter wurde, bis er es
nicht mehr ertrug und sich die Ohren zuhalten wollte, doch
seine Arme gehorchten ihm nicht. Er konnte sie nicht
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