Spiel der Teufel
misstrauisch, und sie fragte: »Warum das
alles?«
»Wenn Sie wieder zurück in die Heimat wollen, bitte, keiner
hindert Sie daran. Sie werden dann allerdings zusehen müssen,
wie Sie zurückkommen, denn nur die Hinfahrt war kostenlos.
Es ist ganz allein Ihre Entscheidung. Berlin oder St. Petersburg.
Sagen Sie's jetzt, oder kommen Sie mit mir.«
Alexandra überlegte einen Moment, erhob sich schließlich vom
Bett und trat zu Petrowa. »Ich habe doch kein Geld.«
»Sie werden aber Geld haben, wenn Sie bei Ihrer Familie sind.
Es steht Ihnen frei, jederzeit zu kündigen, und wenn Sie genug
Geld gespart haben, können Sie zurückfahren. Das haben andere
auch schon gemacht, weil die Sehnsucht nach Mütterchen
Russland zu stark war. Aber ich sag immer, nur die Starken
überleben. Sind Sie stark?«
»Ich weiß nicht.«
Petrowa legte eine Hand auf Alexandras Schulter, sah ihr mit
verständnisvollem Blick in die Augen und sagte auf Russisch:
»Setzen wir uns doch, ich möchte euch nämlich allen eine Geschichte
erzählen. Aber erst zu Ihnen, Alexandra. Sie sind stark,
sehr stark sogar, und wenn Sie Ihre Stärken hier ausspielen, werden
Sie noch viel stärker werden. Jeder von euch ist eine starke
Persönlichkeit, sonst wärt ihr nicht hier. Und wer seine Schwächen
zu Stärken macht, den kann niemand mehr besiegen. Ihr
werdet Großes leisten, ihr werdet Maler, Schriftsteller, Pianisten,
Übersetzer, Dolmetscher... Die Welt steht euch in ein paar
Jahren offen. Nur weil ihr für zwei, drei Tage keine frische Luft
atmen könnt, wollt ihr aufgeben? Schaut mich an, ich kam vor
sechs Jahren nach Deutschland. Ich war wie die Mehrzahl von
euch eine arme Studentin und hatte keine Ahnung, was einmal
aus mir werden sollte. Dann bekam ich völlig unerwartet dieses
phantastische Angebot. Ich habe gezögert, weil ich dachte, da ist
doch bestimmt irgendwo ein Haken, da muss einer sein, niemand
ist so großzügig und lädt dich einfach so ein, in das wundervolle
Deutschland zu kommen, um hier zu studieren, zu
leben und auch noch Geld dafür zu kriegen. Eine kostenlose
Wohnung, ein kostenloser Studienplatz ... Gut, ein bisschen
Hausarbeit und auf die Kinder der Familie aufpassen war auch
bei mir Bedingung. Und jetzt? Jetzt habe ich so viel Geld, dass
ich mir fast alles leisten kann. Das ist Deutschland, das ist Frankreich, Großbritannien, Skandinavien, die USA, Kanada und
viele andere Länder. Ich habe meinen Entschluss von damals
nicht bereut, ganz im Gegenteil, ich bin Gott so dankbar, dass
er mir diese einmalige Chance gegeben hat, etwas aus meinem
Leben machen zu können. Glaubt mir, auch ich hatte Angst vor
dem, was mich hier erwarten würde. Ich hatte die ersten Tage
und Wochen fürchterliches Heimweh, ich sehnte mich nach
meiner Familie und meinen Freunden, ich sehnte mich nach
allem, was mir so vertraut gewesen war. Ich kenne eure Gedanken
und eure Gefühle, weil es auch meine Gedanken und Gefühle
waren. Deutschland ist ein wunderbares Land, mit wunderbaren
Menschen und so großartigen Möglichkeiten. Und ich
verrate euch noch etwas ganz Persönliches. Ich wurde in der
Heimat zu Dingen gezwungen, die ich niemals tun wollte. Einige
von euch wissen, wovon ich spreche. Es war die Hölle, und
aus dieser Hölle wurde ich befreit, weil jemand meine Gebete
erhört hat. Ich wurde christlich erzogen, habe aber im Laufe
meines Lebens so viel Unchristliches erlebt, dass ich anfing an
Gott zu zweifeln. Es gab sogar Zeiten, da habe ich ihn verflucht,
weil er zugelassen hat, dass ich so viel leiden musste. Glaubt
überhaupt jemand von euch an Gott, ich möchte nämlich niemandem
zu nahe treten?«
Einige nickten, andere zuckten nur mit den Schultern.
»Ich kann euch sagen, er hat mich in dieses Land geführt. Gott
hat mir den Weg bereitet, dass ich heute ein freier Mensch sein
darf. Ich bin ihm so unendlich dankbar dafür. Mein Herz
schlägt noch immer für Russland, ich fahre jedes Jahr mindestens
zehnmal in meine Heimatstadt und besuche meine Eltern
und meine Geschwister. Es ist schön dort, aber ich möchte dort
nicht mehr leben. Habt Vertrauen, alles wird gut. Ihr seid
müde, ihr seid erschöpft, ihr habt eine lange Reise hinter euch,
ich weiß genau, wie es euch geht. Mir ging es damals genauso.
Und jetzt schaut mich an und sagt mir, dass ich unglücklich
aussehe. Ich bin glücklich, ich bin glücklich und zufrieden.
Und warum? Weil ich mich nicht umgedreht habe, sondern
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