Spiel des Lebens 1
Komasaufen. Ich kenne ihn. Der säuft weiter. So schlimm kann kein Kater sein.«
Emily trank auch gern mal was, aber nie so viel, dass sie vollkommen die Kontrolle verlor. Das war etwas, vor dem sie sich fürchtete. Es war genau so, als wenn immer irgendjemand hinter einem her schlich, einen ins Fadenkreuz nahm, jemand der unberechenbar war, überall. Und gleichzeitig nirgends. Kontrolle zu haben hieß, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, nicht eingesperrt zu sein, nicht bevormundet zu werden. Ein Vollrausch war so ziemlich das Gegenteil davon. Und auf den Kater am nächsten Tag konnte Emily gut verzichten, auch wenn es sich nicht immer vermeiden ließ.
Ryan drückte ihre Hand ein wenig fester.
»Aber erzähl das noch mal mit dem Bild. Van Gogh. Und diesem Jack.« Ihre Blicke trafen sich. »Du hast ihn schon mal gesehen?«
Emily atmete durch und sammelte ihre Gedanken und war gleichzeitig froh, dass Ryan nicht mit den typischen Psycho-Begründungen kam, die ihre Eltern ihr heute Morgen aufgetischt hatten. »Ja und nein. Es ist wie … «, sie kniff die Lippen zusammen. »Kennst du das, wenn irgendeine Erinnerung da ist, aber je mehr du dich erinnern willst, desto schneller ist sie wieder weg?«
»So, als wenn einem ein Wort auf der Zunge liegt, dass einem erst wieder einfällt, wenn es nicht mehr wichtig ist?«
»Ja, genau so. Und je mehr man sich erinnern will, desto weniger gelingt es.«
»So ähnlich, wie der Mann, dem eine Fee sagt, er kann einen Schatz ausgraben, er darf aber nicht an rosa Elefanten denken?« Ryan hob die Augenbrauen.
Emily merkte, wie sie lachen musste. »Was ist denn das für eine bescheuerte Geschichte?«
»Kennst du die nicht?« Ryan lachte auch. »Der Witz an der Story ist, dass der Mann wahrscheinlich beim Ausgraben nie an rosa Elefanten gedacht hätte, hätte die Fee nichts gesagt.«
Emily nickte. »Genau so! Genau so ist es bei mir. Da kommen diese Bruchstücke, tauchen plötzlich auf, aber wenn man danach greifen will, sind sie weg. Wie … wie … wie … «, sie suchte nach den richtigen Worten, »wie Münzen in einer löchrigen Hosentasche, die ohne Vorwarnung verschwinden.«
Ryan rückte ein wenig näher heran und fixierte sie aufmerksam. »Und du glaubst, dass deine Eltern … ?«
»… etwas wissen?« Emily zuckte die Schultern. »Sie verhalten sich irgendwie komisch. Als ich mit diesem Van-Gogh-Bild kam und mit Jack Barnville, da hatten sie seltsame Standardbegründungen: Du hattest einen Schock, du hast das Bild im Museum gesehen, es gibt Tausende von Männern mit rotem Dreitagebart und so weiter und so weiter.«
»Aber was regst du dich darüber auf? Was für eine andere Erklärung sollen sie denn haben?«
Emily drückte Ryans Hand und schaute aus dem Fenster, blickte auf die vom kalten Licht des Mondes beschienenen Bäume im gegenüberliegenden Park. »Ich weiß es nicht. Es gibt nur zwei Möglichkeiten.« Sie merkte, wie sie, teils bewusst, teils unbewusst, ihre andere Hand auf die von Ryan legte. »Entweder, sie haben tatsächlich keine Ahnung.«
»Und die zweite Möglichkeit?«
»Die zweite Möglichkeit? Vielleicht, dass sie … « Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Vielleicht dass sie in Wirklichkeit … Ach, ich weiß auch nicht.« Sie sah ihn an. »Nein, du hast wahrscheinlich recht. Sie machen sich bestimmt wirklich nur Sorgen.«
Sie saßen beide eine Weile schweigend auf dem Bett, während draußen dunkle Wolken am Mond vorbeizogen wie eilige Reisende.
»Dann musst du selbst draufkommen«, sagte Ryan.
»Tolle Idee«, spottete Emily. »Und wie?«
»Hast du es mal mit Hypnose versucht?«
»Hypnose?« Emily stutzte. »Wo irgendein komischer Esoterik-Typ einem mit einem Pendel vor den Augen rumfuchtelt?«
»Es gibt solche und solche«, erwiderte Ryan. »Wir sprechen hier ja nicht von irgendeinem Betrüger in der Fußgängerzone von Soho. Seriöse, gute Hypnose kann helfen, Dinge offenzulegen. Und dann besser damit umzugehen. Wir hatten gerade einen Gastvortrag von einem Dr. Johnson in unserem Psychologieseminar. Der schien wirklich was draufzuhaben.«
Hypnose bei Dr. Johnson, dachte sie. Einerseits war es verlockend, endlich zu wissen, wo diese Erinnerungen herkamen, die wie ein Nebel ab und zu an ihrem Bewusstsein vorbeischwebten und die sie nirgends festhalten konnte. Andererseits gefiel es ihr nicht, irgendjemanden in ihren Kopf schauen zu lassen. Sie Dinge sagen zu lassen, die sie vielleicht gar nicht sagen wollte. Doch gab es eine
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