Spiel des Lebens 1
meinen Abschluss rechtzeitig fertig kriegen, sonst steigen mir meine Eltern aufs Dach. Tja, so ist das nun mal.« Wieder eine Pause. »Heute Abend? Nee, ganz schwierig. Ich muss für Psychologie noch was von diesem Freud lesen, keine Ahnung, warum sie den immer noch bringen, wahrscheinlich aus historischen Gründen, wie auch immer. Und dann sollen wir für Englisch eigentlich bis morgen König Lear auf dem Schirm haben. Bei mir wird’s nur Wikipedia werden, aber auch das muss ich lesen.«
Emilys Augen weiteten sich. König Lear stand in der Tat auf dem Programm für morgen. Und sie hatte noch nicht einen Satz davon gelesen. Sie wusste nur, dass König Lear drei Töchter hatte. Und sich mit ihnen ziemlich dusselig anstellte. Irgendwie erinnerte er sie an ihre Eltern.
»Pass auf, ich muss Schluss machen«, sagte Ryan. »Ich ruf dich die Woche mal an, sonst sehen wir uns im Tutu’s nächsten Freitag. Alles klar? Ciao.«
Das Gespräch schien zu Ende zu sein, doch Emily lauschte weiter in die Stille hinein.
Da öffnete sich plötzlich die Tür – und Emily wäre fast in Ryans Zimmer hineingefallen. Halb fing er sie auf, halb blickte er sie aus weit geöffneten Augen an.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Äh, ja, alles klar.« Sie stellte sich gerade hin, atmete tief durch und räusperte sich. »Machst du was für die Uni?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sollte wohl bald mal damit anfangen. Und du?«
»Äh, ja, werde mich jetzt mal ransetzen«, stotterte Emily. »Ich melde mich nachher noch mal bei dir.«
Ryan lächelte, halb erfreut, halb verwundert.
»Kannst du gern machen.«
Emily nahm ihren Tee und ging zurück in ihr Zimmer. Und kam sich so doof vor wie selten zuvor.
21
I n der Nacht träumte Emily wieder.
Zuerst waren da diese Sterne, die sie zunächst noch aus großer Entfernung gutmütig anblickten. Doch dann kamen sie immer näher, wurden zu stechenden Augen, die sie unverwandt anstarrten. Emily wusste irgendwie, dass sie träumte, doch sie konnte aus diesem Traum nicht aufwachen. Wie jemand, der an die Wasseroberfläche schwimmen will, aber von unsichtbaren Gewichten an den Füßen unbarmherzig zum Boden des Meeres gezogen wird – um dort zu ertrinken und niemals wiedergefunden zu werden.
Sie schrie im Traum. Dann kamen die Bilder. Undeutlich, aber deutlich genug, um zu erkennen, um was es sich handelte. Und die Geräusche. Das Tapsen der Dutzenden von Füßen der Obdachlosen auf dem Boden der U-Bahn-Station, die dumpfen Schläge, als sie auf die Kerle einschlugen, das Brechen von Knochen.
Dann wieder die Bilder. Jack Barnville, tot auf dem Stuhl vor dem Van-Gogh-Bild. Die Augen verdreht und schräg zur Decke gerichtet, der Speichelfaden, der ihm aus dem Mund hing.
Der Geruch. Nach verbrannter Elektronik und Fleisch. Der Geruch des Todes und der Angst.
Emily!
All diese Bilder und Geräusche jagten auf sie zu wie Geschosse, denen sie nicht ausweichen konnte, während sie kämpfte, strampelte und versuchte, die Wasseroberfläche zu erreichen, doch mit jedem Versuch nur tiefer nach unten gezogen wurde. So als würde man Salzwasser gegen den Durst trinken.
Emily!
Dann spürte sie die Hände, die nach ihr griffen, schüttelte sie ab, spürte sie wieder, hörte wieder ihren Namen.
Emily!
Und dann blickte sie in zwei Augen. Direkt vor ihrem Gesicht.
Doch die Augen waren echt. Es waren keine Sterne, keine Dämonen, keine Obdachlosen, kein Geisteskranker. Es waren die Augen von …
»Ryan!«
»Emily, was ist denn los?«, fragte er. Er stand in Shorts und einem T-Shirt vor ihr. Die Nachttischlampe war angeschaltet.
Sie atmete rasselnd und sah sich um. Schweiß bedeckte ihre Stirn. Die Bettdecke hatte sie zerknüllt und zu Boden geworfen, das Kissen umklammert wie einen Schutzschild.
»Emily, ist alles in Ordnung?«, fragte Ryan noch einmal.
Sie wusste noch immer nicht, was sie sagen sollte, schaute in die Lampe, in die Augen von Ryan.
Wo war das Meer? Das Gewicht? Die Sterne? Der tote Jack? Seine toten Augen?
Sie waren verschwunden.
»Emily, es ist alles in Ordnung, ich bin hier«, sagte Ryan jetzt. »Du hast nur schlecht geträumt.«
Sie atmete ein paarmal tief durch.
Immer wieder diese Träume. Immer zur gleichen Stunde. Sie schaute auf die Uhr – und hätte es gar nicht tun müssen, denn sie wusste, wie spät es war.
Drei Uhr dreißig.
Die Zeit zwischen drei und vier Uhr. Die Zeit der größten Einsamkeit. Die Zeit der größten Schrecken. Die Zeit, wo du wirklich allein
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