Spiel des Lebens 1
entgegnete Emily, als sich das Taxi dem St. Paul’s Kirchhof näherte, »er hat ja erst vor zehn Minuten angerufen. Da können wir unmöglich schon um fünfzehn Uhr in St. Paul’s sein. Das meint er nicht.«
»Fünfzehn Uhr plus X ist sechzehn Uhr«, sagte Julia.
»Schauen wir mal.« Emily schrieb in krakeligen Buchstaben 365 auf ihr Blatt Papier. Einfach war es nicht, bei der halsbrecherischen Fahrt irgendetwas aufzuschreiben. »Was kann er mit der 65 noch meinen?« Da kam ihr eine Idee.
»Vielleicht so?« Und dann schrieb sie 3 = 15 Uhr .
»Es bleiben noch fünfundsechzig«, sagte sie.
»Sechzig Minuten sind eine Stunde.« Das war wieder Julia, während Matts Kopf zwischen beiden hin- und herschaute, als würde er ein Pingpong-Spiel beobachten.
»Fünfzehn Uhr und eine Stunde«, rief Emily. »Sechzehn Uhr!«
»Und fünf Minuten bleiben übrig.«
»Ergibt«, schloss Emily, »sechzehn Uhr und fünf Minuten. Shit!« Sie schaute auf die Uhr. 16:08. Drei Minuten zu spät. »Shit, shit, shit!«
Sie musste es versuchen. Sie musste es schaffen. Sie musste Drake retten. Drake durfte nicht sterben.
Vor ihnen erhob sich St. Paul’s Cathedral.
»Nun halten Sie schon an!«, schrie Emily.
Das Taxi stoppte mit quietschenden Reifen. Emily sprang heraus und rannte auf den Platz vor St. Paul.
»Mein Geld«, rief der Taxifahrer, doch das war Emily im Moment herzlich egal. Sie raste die Treppen vor der Kirche hinauf und stellte sich mitten vor das große Portal. »Ich bin hier«, schrie sie und erntete verwunderte Blicke von den Passanten und Touristen, die mit Digitalkameras und Schirmmützen die Treppe bevölkerten. »Wer immer du bist, ich bin hier, es ist fast noch sechzehn Uhr und fünf Minuten. Ich bin hier! Ich bin hieeeer!«
Sie ruderte mit den Armen, und es war ihr gleichgültig, ob alle Menschen sie für vollkommen verrückt halten würden. Sie wusste, dieser Irre würde sie sehen, irgendwie, und sie wusste, er musste sie sehen, wenn sie gewinnen wollte.
Da hörte sie wieder den Glockenton ihres iPhones.
Sie spürte, wie ihr Säure die Speiseröhre hinaufkroch.
Doch es gab keine Alternative.
Sie öffnete die SMS und las:
DU HAST DIE SCHULE UNSERES HELDEN ZU SPÄT GEFUNDEN. JETZT ERWARTET DICH EINE HÄRTERE SCHULE.
Die Schule unseres Helden.
St. Paul.
Die Schule von John Milton.
Dabei schon wieder ein Foto. Sie öffnete den Anhang.
Wieder Drake.
Wieder die schwarzen Handschuhe.
Und in einer Hand war ein Rasiermesser.
»Neiiiin«, schrie sie und sank für einen Moment in die Knie. Ein chinesischer Tourist mit einer London-Schirmmütze machte einen Schritt auf sie zu, offenbar unsicher, ob er helfen oder ob er lieber Abstand halten sollte. Doch da sprang sie schon wieder auf und rannte zum Taxi zurück.
Matt und Julia waren ausgestiegen, blickten sie verwundert an, während der Taxifahrer das Geld zählte und gerade im Begriff war weiterzufahren.
»Halt«, schrie Emily, »bleiben sie hier. Matt! Sagen Sie ihm, er soll hierbleiben.«
»Nach Notting Hill«, sagte Emily, schwer atmend, als alle wieder im Taxi saßen. »Wieder, so schnell es geht. Nein, noch schneller!«
»Trinkgeld kriege ich wieder … ?«
»Wieder fünfzig, wenn Sie sich beeilen!« Zwar hatten Matt oder Julia dem Fahrer die erste Fahrt bezahlt, aber das war Emily grad egal. Sie würde ihnen das Geld wiedergeben.
»Sie sind aber eine nette Kundin«, meinte der Fahrer und gab Gas.
Der Fahrer war so schnell gefahren, dass sie kurz nach Carters Streifenwagen in Notting Hill am Haus von Emilys Eltern waren. Der Constable stand vor der Tür.
»Niemand da«, sagte er zu Emily.
»Das werden wir ja sehen.«
Sie schloss die Tür auf und rannte die Treppen hinauf.
»Drake«, rief sie. Und erwartete, dass keine Antwort kommen würde.
Weil er tot war.
Weil er irgendwo in seinem Blut lag. Getötet mit diesem blitzenden, silbernen Rasiermesser, das sie auf dem Foto gesehen hatte.
Doch da hörte sie es. Ein leises Bellen.
Sie lief weiter in ihr Zimmer. Lebte er noch? Hatte er noch eine Chance?
Sie riss die Tür auf.
Und Drake sprang ihr entgegen, hüpfte an ihren Beinen empor und streckte fröhlich seine lange Zunge heraus.
Quicklebendig.
Ihm war kein Haar gekrümmt worden.
»Drake!«, rief sie und fiel auf die Knie, während ihr vor Erleichterung die Tränen in die Augen schossen.
»Drake!«
War das alles nur ein Scherz gewesen? War es nur ein böser Traum?
Sie kraulte sein Kinn und seinen Kopf und wusste nicht, wann sie
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