Spiel des Lebens 1
zuletzt so glücklich gewesen war. All der Schrecken, all das Grauen, all die Anrufe und der Terror, das Van-Gogh-Gemälde und der tote Jack Barnville auf dem Stuhl waren in diesem Moment vergessen. Sie spürte die Zunge von Drake, die über ihr Gesicht leckte, fühlte die Pfoten auf ihren Knien, roch den Geruch seines Fells und hörte das fröhliche Japsen und Gurren, das ab und zu von einem herzlichen Bellen unterbrochen wurde. Sie saß dort auf dem Boden und umarmte Drake wie einen Freund, den man hundert Jahre nicht gesehen hatte, und für einen kurzen Augenblick war sie in einer Welt, die nur aus Freude und Glück bestand.
Bis sie die Augen wieder öffnete.
Bis sie den Zettel an Drakes Halsband bemerkte.
Und bis sie die Nachricht las, die darauf stand:
Glaubst du wirklich, ich würde unschuldige Tiere töten?
Ich töte nur Menschen. Schuldige Menschen.
25
D ieser Typ war hier«, sagte ihre Mutter entsetzt. »Er war hier.«
Emily stand mit ihrer Mutter im großen Wohnzimmer der elterlichen Villa. Drake, um den es bei der ganzen Jagd ja gegangen war, hockte ein wenig verwundert, aber schwanzwedelnd neben den beiden, als würde ihn das alles gar nichts angehen.
»Er war hier!« wiederholte ihre Mutter, und die leichte Hysterie, die sonst in ihrer Stimme lag, war auf einmal verschwunden. Ihre Stimme war fest und bestimmt. »Das bedeutet, dass du nicht einmal hier mehr sicher bist. Emily.«
Ihre Mutter stand vor ihr, in der Hand das Handy, mit dem sie Emilys Vater »zugeschaltet« hatte, wie sie es nannte, und der ab und an schwer verständliche, rauschende Sätze durch die Lautsprecherfunktion des Handys von sich gab.
»Emily«, sagte ihre Mutter. »Das Beste ist wirklich, wir verreisen zusammen. Und du musst auch einfach mal hier raus, Abstand von all dem gewinnen. Die Polizei ihren Job machen lassen. Und wenn du dann in einem halben Jahr wiederkommst, ist dieser Irre hinter Schloss und Riegel.«
Sie sprach gleichzeitig in das Handy und in Richtung ihrer Tochter.
Vielleicht hatten sie ja recht. Vielleicht war es wirklich das Beste. Aber was, wenn dieser Irre immer noch frei herumlief, wenn Emily wieder zurück war? Und was, wenn er ihr hinterher reisen würde?
»Emily«, war jetzt die Stimme ihres Vaters zu vernehmen. »Mum hat recht. Warum macht ihr nicht eine kleine Weltreise, um das alles zu vergessen, und wir klären das Ganze hier in der Zwischenzeit. Wenn ihr zurück seid, ist dieser Irre, wer das auch ist, im Gefängnis. Du wolltest doch immer schon mal nach Singapur und – «
»Ich wollte noch nie nach Singapur!«, schnappte Emily. Ihr Vater hatte ihr ständig von Singapur vorgeschwärmt, wie dynamisch und schnell dort alles gehen würde, das Meer, das Hinterland, die riesigen Hotels und Wolkenkratzer.
Sie wusste nur, dass man dort kein Kaugummi kauen durfte, und das reichte ihr schon, um gerade dort nicht hin zu wollen. Und zehn Stunden fliegen wollte sie schon gar nicht.
»Und außerdem«, sagte sie, »was ändert sich, wenn ich in Singapur bin? Dieser Typ ist hier ins Haus gekommen! Dann wird er es wohl auch in einen Flieger nach Singapur schaffen! Oder?« Sie blickte ihre Mutter an, die ein wenig unentschlossen am großen Wohnzimmertisch stand und auf das Handy schaute, so als wäre der Geist ihres Mannes hinter der iPhone-Fassade. »Oder?«
»Emily«, begann ihre Mutter und hielt das Handy hoch wie einen Talisman. »Vielleicht schläfst du hier eine Nacht darüber, und morgen entscheiden wir dann, was wir machen. Du kannst das Studium auch ein Jahr aufschieben und dann – «
»Dann was?« In ihrem Kopf rotierte es. Warum sollte sie eigentlich immer Widerstand leisten? Vielleicht meinten es ihre Eltern ja wirklich nur gut mit ihr? Verdammt, es waren ihre Eltern, sie hatten nur das Wohl ihrer Tochter im Sinn. Warum sagte sie nicht einfach Ja und verreiste für ein halbes Jahr mit ihrer Mutter? Da gab es ja nun wirklich Schlimmeres. Ihre Mutter war sehr besorgt, aber sie war auch ruhig und sachlich. Obwohl dieser Typ hier im Haus gewesen war – in der Küche und im Wohnzimmer – und Fotos gemacht hatte. Sich Drake genähert hatte und vorher offenbar die komplette, sündhaft teure Alarmanlage des Hauses ausgeschaltet hatte. Wer dann trotzdem so sachlich blieb wie ihre Mutter jetzt gerade, konnte ja nicht völlig unrecht haben.
Verreisen. Ein halbes Jahr. Vielleicht eine gute Idee, aber es war ein wenig so, als würde man glauben, dass die Probleme verschwinden, wenn man nur lange
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