Spiel des Lebens 1
Sechs Minuten waren schon vergangen.
Du hast nicht viel Zeit.
Gehe dorthin, wo das Jahr nach oben strebt, hallten die Worte in ihrem Kopf wider.
Wenn sie nicht viel Zeit hatte, überlegte sie, konnte der Ort, den der Irre meinte, nicht allzu weit entfernt sein.
»Ein Jahr nach oben«, sagte sie und kniff, während sie nachdachte, die Augen zusammen. »Wie viele Tage hat ein Jahr? Dreihundertfünfundsechzig Tage?«
Julia blickte sie an.
»Dreihundertfünfundsechzig Tage«, bestätigte sie. »Bis auf wenige Ausnahmen.«
»Scheiß auf die Ausnahmen. Gibt es irgendein Gebäude in der Nähe, das dreihundertfünfundsechzig Meter hoch ist?«
»So hoch ist hier nichts«, sagte Matt. »Wir sind hier ja nicht in Dubai oder Kuala Lumpur.«
»Warte«, sagte Julia und griff nach ihrem iPad. »Vielleicht ist es eine andere Maßeinheit. Yard oder … «
»Yard wäre zu viel«, widersprach Matt. »Wie wäre es mit Fuß?«
Emily schaute Matt erstaunt an. Diese kantige Schaufensterpuppe mit dem Ohrhörer und der Walther PPK konnte auch ganz nützlich sein.
Sie überschlug das im Kopf.
Ja, das könnte stimmen.
Sie riss Julia das iPad aus der Hand.
»Bingo!«, rief sie einen Moment später.
»Was?«
»St. Paul’s Cathedral.«
Julia sah so aus, als wollte sie eine Frage stellen, aber Emily schnitt ihr das Wort ab. »Erklär ich dir im Taxi!«
Sie rannten nach draußen, während Matt ihnen recht unsanft einen Weg durch die Passanten bahnte und begleitet von quietschenden Reifen und lautem Hupen auf die Straße trat. Er öffnete die Tür eines schwarzen Taxis, und Emily und Julia sprangen hinein. Matt stieg als Letzter ein und knallte die Tür zu, als das Taxi schon anfuhr.
»Wohin?«, fragte der Fahrer.
»St. Paul’s Cathedral, so schnell es geht.« Emily versuchte nicht zu schreien. »Fünfzig Pfund extra, wenn Sie sich beeilen und wir in fünf Minuten da sind!«
»Ay, ay, Madam, fünfzig Pfund für fünf Minuten«, sagte der Taxifahrer und beschleunigte, sodass Emily und Julia in die Sitze gedrückt wurden und draußen erst die Fassade des King’s College und dann die klassizistischen Säulen des obersten Gerichts vorbeisausten.
»Warum St. Paul?«, fragte Julia gegen das Heulen des Motors an und schaute auf die Uhr.
Emily blickte auf das iPad und hielt sich am Haltegriff über der Tür fest, während das Taxi eine rasante Rechtskurve fuhr. Ein wenig kam es ihr vor wie bei James Bond.
»Der Architekt Christopher Wren hat St. Paul’s 365 Fuß hoch gebaut, einen Fuß für jedes Jahr, sind umgerechnet 111 Meter.« Sie wischte über die Seiten, überflog die Angaben und ließ fast das iPad fallen, als das Taxi wieder eine enge Kurve fuhr.
Doch plötzlich stutze sie.
Da stand etwas, was ihr einen Stich ins Herz gab, und sie an die albtraumhafte Szene in der Bibliothek erinnerte.
Three poets in three distant ages born,
Greece, Italy and England did adorn …
Die schnarrende Stimme des Anrufers war wieder in ihrem Kopf, als sie die Website überflog.
»Was ist, Em?«
»John Milton«, sagte Emily.
Wieder Milton.
»Ja und?«, fragte Julia. Sie kannte ja die Milton-Story nicht.
»Dieser Irre hat es immer mit John Milton«, antwortete Emily. »Und hier steht, Milton wurde in der St. Paul’s School unterrichtet«, rief sie gegen den Motor an.
Milton , dachte Emily, John Milton. Warum?
Sie schaute auf die Uhr. Fast zehn Minuten vergangen. Du hast nicht viel Zeit.
Das Taxi jagte durch die Fleet Street, dort, wo ihr Vater arbeitete. Sie schaute auf die Notizen, die sie gerade eben hektisch zusammengekritzelt hatte.
Stelle dich dort zu dieser Zeit hin, las sie. Stelle dich dort zu dieser Zeit hin. Das hatte sie fast vergessen. Da war noch ein Rätsel, das sie lösen musste. Jetzt. Sofort.
Sie zeigte es Julia.
Stelle dich dort zu dieser Zeit hin.
»Was meint der Kerl damit?«
»Er … ähm, er meint eine Uhrzeit, würde ich sagen«, antwortete Julia.
Emily überlegte fieberhaft.
»Vielleicht hat es auch mit den dreihundertfünfundsechzig Tagen zu tun?«
In einiger Entfernung sah sie schon die große Kuppel von St. Paul’s, die sich majestätisch in den Himmel erhob.
Julia nickte. »Möglich. Wenn wir nicht viel Zeit haben, muss es nahe an der jetzigen Uhrzeit sein.«
Emily schaute wieder auf die Uhr.
16:07.
»Dreihundertfünfundsechzig. Vielleicht jede Ziffer für eine Zeitangabe? Drei Uhr kann fünfzehn Uhr sein«, überlegte Julia. »Drei Uhr, sechs Minuten und fünf Sekunden?«
»Geht nicht«,
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