Spiel des Lebens 1
und schloss die Tür. Ja, okay, es war ziemlich unfair, ihre Mum zu belauschen, aber sie hatte ja keine andere Wahl. Freiwillig erzählte man ihr ja nichts.
»Ja, Thomas, du kennst die Situation besser«, sagte ihre Mum. Thomas. Also telefonierte sie mit ihrem Dad. »Andererseits«, sprach Mum weiter, »ist das so lange her. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich daran noch erinnert.« Wieder eine Pause. »Hat sich denn Barnville in der Zwischenzeit mal bei dir gemeldet?«
Emily zuckte zusammen.
Barnville? Der Tote auf dem Stuhl? Warum sollte der sich bei Dad gemeldet haben?
Ihre Mutter redete schon wieder weiter.
»Ja, ich hatte auch gedacht, dass die üblen Scherze von Jack kommen. Aber jetzt ist er tot. Und es geht weiter. Es muss jemand anders sein.«
Scherze? Von Jack? Was zur Hölle meinte ihre Mutter damit? Und warum kannten sie beide Jack überhaupt?
»Thomas, hör zu«, hörte sie ihre Mutter sprechen. »Ich glaube nicht, dass es nur ums Geld geht. Wenn ja, warum hat er dann Jack umgebracht?« Wieder eine Pause. »Deswegen müssen wir verreisen. Und zwar sofort.«
Ihr Vater schien am Ende der Leitung etwas zu sagen.
»Okay, Darling, dann sehen wir uns heute Nacht«, meinte Mum. »Ich bin dann sicher noch wach.«
Ihre Mutter beendete das Gespräch und stand auf.
Emily schaltete das Mikrofon aus, hastete aus dem Kontrollraum und verschwand blitzschnell in ihrem Zimmer.
Was zum Teufel war da los?
Warum kannten ihre Eltern Jack Barnville?
Sie hatte schon befürchtet, dass ihre Eltern ihr irgendetwas verheimlichen würden, schon allein deswegen, weil sie unbedingt mit ihr verreisen wollten, um damit gleichzeitig Emily und das Problem aus London herauszuschaffen. Und dann vorgestern das Gesicht von Dad, als er den toten Jack Barnville gesehen hatte und von Carter unbedingt erfahren wollte, wie er umgekommen war. Und den Computer, mit dem Jack handelte, hatte Dad auch sehr gut gekannt. Okay, er war Investmentbanker, und es war durchaus normal, dass er sich mit so was auskannte, doch war da nicht etwas mehr als nur seine Allgemeinbildung als Banker? War da nicht auch ein wenig – Gemeinsamkeit?
Und vor allem: Was sollte damals gewesen sein?
Und was war zu lange her?
Es gab keinen anderen Weg.
Sie musste die Sache selbst in die Hand nehmen.
26
E mily näherte sich dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Die Tür stand offen, wie so oft. Früher hatte er das Zimmer abgeschlossen, aber da mittlerweile ohnehin alles digital gespeichert war und er seinen Rechner immer dabei hatte, war das kaum mehr erforderlich.
Jack Barnville. Wo war da der Zusammenhang?
Sie setzte sich an den großen Eichenholzschreibtisch, an dem Thomas Waters am Wochenende öfter saß, mit Kollegen in Tokio telefonierte und über irgendwelchen Power-Point-Präsentationen brütete. Ihr Blick glitt über die Ordner, die in einem großen Regal an der Wand standen. Es ging ausschließlich um die Bank. Gehaltsnachweise, Steuererklärungen, Rechtliches und so weiter.
Ob sie gerade hier fündig werden würde? Sie nahm einen der Ordner zur Hand und wuchtete ihn auf den Tisch. Die Steuererklärung von 2009 , ein Haufen Belege, Flugtickets, Hotelrechnungen, Kreditkartenabrechnungen. Alles langweilig, und alles sah gleich aus.
Ein zweiter Ordner. Dann ein dritter.
Würde sie hier in diesen langweiligen, knochentrockenen Ordnern, die voll mit langweiligen Papieren waren, irgendetwas finden?
Ein vierter Ordner sah vielversprechender aus.
Prozessunterlagen.
Das klang immerhin etwas spannender.
Sie wuchtete auch diesen Ordner auf den Tisch und blätterte durch die Akten. Es schien um irgendeinen Gerichtsprozess zu gehen. War ihr Vater etwa angeklagt worden? Nein, es schien sich um eine Sekretärin zu handeln.
Mary Lawrence.
Sekretärin von Thomas Waters. 1994–1998.
1998 , dachte Emily, irgendetwas war da gewesen, das wusste sie, aber es war so weit hinter einer dicken Decke des Vergessens verborgen, dass nur die Nennung dieses Jahres irgendeine Ahnung in ihr weckte, wie ein kurzes Wetterleuchten in tiefster Nacht. Mehr aber auch nicht.
Sie las weiter.
Untreue …
Das schien ja doch interessant zu werden. Ihr Blick flog weiter über die Papiere. Der Briefkopf einer Anwaltsfirma, die im Auftrag der Bank arbeitete. Dann Dokumente und Kopien mit dem Logo des Obersten Gerichtshofs in London, dem Royal Court of Justice.
Ein Foto von Mary, rothaarig, nicht unattraktiv, aber ein wenig verbiestert, wie Emily fand.
Auch ein Foto ihres
Weitere Kostenlose Bücher