Spiel des Lebens 1
die ihr zeigte, dass sie richtig gelegen hatte, dass manchmal Pessimismus der wahre Realismus war.
»Wegen einer Signalstörung aufgrund eines Stromausfalls endet dieser Zug hier. Wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen. Wir entschuldigen uns für jegliche Unannehmlichkeit und danken für Ihr Verständnis.«
Wir entschuldigen uns?, dachte sie. Und was kriegt man dafür? Gar nichts.
Sie fuhr sich über die schweißnasse Stirn und sah sich um. Und dann kam die Dankbarkeit wieder. Denn sie war zurück. Zurück in der wirklichen Welt. Sah die Werbeplakate an den Wänden, hörte das Dudeln eines anderen Straßenmusikers, doch was er spielte, hörte sie nicht. Und es interessierte sie auch nicht. Sie rannte die Treppe hinauf und fand sich an der Station South Kensington wieder. Zurück auf der Erde.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte einer der Passagiere den Aufseher.
Der Mann schob sein Kaugummi von einer Backentasche in die andere und rückte seine blaue Mütze zurecht.
»Stromausfall«, antwortete er in breitem Newcastle-Dialekt. »Da ging gar nichts mehr, in beide Richtungen. Strecke ist gesperrt. Viel Glück beim Taxisuchen.«
Oben an der Hauptstraße rasten Autos und Busse vorbei. Die Busse voll bis zum Anschlag, die Taxis natürlich alle schon besetzt. Kein Wunder, wenn eine ganze U-Bahn-Strecke lahmgelegt war.
Shit, dachte Emily und die Erinnerung ließ ihr die Gänsehaut über den Rücken laufen. Vor sechs Tagen nach der Party im Tutu’s hatte es auch keine Taxis gegeben.
Dann halt zu Fuß. Sie biss die Zähne zusammen und schaute auf die Uhr. Dann gab sie die Koordinaten in ihrem iPhone ein.
25 Minuten.
Schöne Scheiße.
Sie zögerte einen Moment, dann wählte sie die Nummer ihrer Mum aus dem Adressbuch an. Egal, wie wütend Emily auf ihre Eltern war, das hatten sie nicht verdient. Sie wollte nicht, dass sie sich noch mehr Sorgen machten.
Der Name ihrer Mum blitzte im Display kurz auf. Dann war er wieder verschwunden und der Anruf beendet.
Sie versuchte es noch einmal. Und noch einmal.
Nichts.
Warum konnte sie ihre Mum nicht anrufen? Sie schaute sich um. Keine Telefonzelle zu sehen. Warum auch, wenn mittlerweile jeder ein Handy hatte. Und überhaupt, dachte sie, und merkte, wie ihr die Angst den Rücken hochkroch, wieso hat sich Mum noch nicht bei mir gemeldet? Ich bin fast eine Stunde zu spät und sie meldet sich nicht? Oder lässt sie mich jetzt hängen, weil ich das Gespräch so einfach beendet habe?
Emily beschleunigte ihre Schritte.
Was soll’s, dachte sie, während sie mit schnellen Schritten die Hauptstraße Richtung Norden lief.
In 25 Minuten bin ich zu Hause.
45
Sie wird sich doch wohl nicht verspäten?
Nein, sie wird einen Weg finden. Sie wird immer zu mir finden, genau so, wie sie es immer schon getan hat.
Er schaute aus dem Küchenfenster der großen Kuppelvilla, während er Drake streichelte, der fröhlich mit dem Schwanz wedelte.
Ihre Mutter war gerade mit dem Auto ihres Mannes zu Emilys Wohnheim gefahren, ihr Vater würde direkt von der Bank dorthin kommen.
Die Eltern waren weg. Beide.
Der Butler war auch nicht da.
Und das Haus war leer.
Es war wie geschaffen für ihn.
Für ihn und Emily.
Seine Squatter hatten sich über die Nachbarschaft verteilt, gut versteckt, sie würden ihm Bescheid sagen, wenn sie kommen würde. Es war alles vorbereitet.
Der 18. Geburtstag.
Ein wenig tat es ihm fast leid. Er hatte sie so lange beobachtet, seit diesem Tag vor dreizehn Jahren, das irgendetwas in ihm war, das nicht wollte, dass sie starb. Vor seinem inneren Auge sah er sie vor sich, wie sie die Straße zur Villa ihrer Eltern hinauflief, ein Schatten, der gegen den Sturm der Nacht ankämpfte, wie eine Lilie am Ufer eines windumtosten Flusses.
Doch war Schönheit nicht immer entweder unnahbar oder vergänglich? Konnte Schönheit Schönheit sein, wenn sie unendlich wäre? Nein, sie musste vergehen. Es gibt nichts Poetischeres als den Tod einer schönen Frau, hatte Edgar Allan Poe gesagt. Schönheit und Tod. Sie hingen so eng zusammen, dass der Tod der Schönheit fast eine Notwendigkeit war. Und das beste war, die Schönheit verging nicht langsam und schleichend durch Alter und Verfall, sondern in dem Moment, wo sie am stärksten und am schönsten war, wie das Licht eines Sterns, das dann am hellsten leuchtet, wenn es nach langen Jahren aus den Tiefen des Alls die Erde erreicht hat. Lange, lange Zeit, nachdem der Stern schon verloschen war und seit Jahrhunderten schon nicht
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