Spiel des Lebens 1
mehr existierte. Denn das Licht des Sterns ist dann am schönsten, wenn der Stern schon längst tot ist.
Jeder Anfang trägt sein Ende in sich, jedes Aufblühen seinen Untergang. Und jeder Frühling seinen Winter.
Darum würde, nein, darum musste sie sterben.
Und das würde sehr bald sein.
Noch eine Stunde. Dann hatte sie Geburtstag. Neun Tage nach dem Sturz. Am zehnten September. Der Tag, an dem sie auf die Erde gekommen war. Und auch der Tag, an dem sie diese Erde wieder verlassen würde.
Der erste und der letzte Tag.
Ein Zischen ertönte aus seinem Funkgerät.
»Ja?«
Eine Stimme am anderen Ende.
»Sie kommt.«
46
D as Haus war hell erleuchtet, die Tür stand offen.
Emily knirschte mit den Zähnen. Ihre Mutter hatte es doch nicht lassen können. Hatte sie denn nicht begriffen, worum es hier ging?
Natürlich hatte sie es nicht, dachte Emily resigniert. Und wenn sie ehrlich war, konnte sie es ihr nicht verdenken. Ihre Mum war schon immer so gewesen. Bloß keine Probleme. Bloß keinen Streit. Alles auf Harmonie gepolt.
Sie straffte ihre Schulter und ging voran in den großen Korridor, der ins Innere des Hauses führte, aber sobald sie ihn betrat, zuckte sie zurück. Er war voll mit Luftschlangen – und Luftballons!
Luftballons!
Was für ein Hohn!
Gleichzeitig kamen die Bilder wieder, die sie bei Dr. Johnson gesehen hatte. Sie war vor dem Haus, genau wie jetzt, und dann saß sie in einem Auto. Ihre Eltern standen draußen, mit einem Fremden. Und sie saß im Auto. Auch mit Fremden. Ihre Eltern blickten sie an. War es real? Oder war es ein Foto gewesen? Egal. Fest stand, es erschreckte sie maßlos.
Dann ein weiterer Bildfetzen. Sie als kleines Mädchen in einem roten Kleid. Sie weinte. Und der fremde Junge, der dort mit ihren Eltern stand – er lächelte. Lächelte, lächelte und lächelte.
Sie ging weiter, atmete tief durch, als sie sich an Luftschlangen und Luftballons vorbeidrängte. Sie ging wie in Trance. Wie in einer Hypnose, so als würde sie in der Praxis von Dr. Johnson sitzen. Sie hatte gedacht, sie hätte alles hinter sich. Hätte alles im Griff. Könnte ihre Eltern zur Rede stellen.
Sie hatte sich getäuscht.
Im Wohnzimmer brannte Licht.
Sie legte ihr Handy auf die Kommode neben die Autoschlüssel ihrer Mutter, wie sie es immer tat, und ging weiter. Und merkte nicht, wie sich hinter ihr die Reihen schlossen. Wie dunkle Schatten, die in den Winkeln des Korridors gewartet hatten, hinter ihr den Rückweg blockierten und sich mit ihr nach vorn in die Villa bewegten, langsam, lautlos, wie ein Tsunami, der sich auf eine nichts ahnende Küste zubewegt.
Das Wohnzimmer war hell erleuchtet. Auch hier war alles mit Luftballons und Luftschlangen dekoriert. Auf einem der großen Tische stand eine riesige Torte mit achtzehn Kerzen. Leise Musik wehte von irgendwo herüber.
»Mum?«, fragte sie und spürte, wie ihre Stimme zitterte.
»Daddy?«
Doch was sie hörte, war eine andere Stimme.
Eine Stimme, die sie kannte.
»Nicht ganz«, sagte die Stimme.
Er saß auf dem großen Ledersessel im Wohnzimmer, auf dem sonst ihr Vater saß. Die eine Hand, an der ein Siegelring blitzte, war auf die Lehne gestützt, in der anderen Hand hielt er ein Glas Whisky, in dem zwei oder drei glitzernde Eiswürfel schwammen. Der Ring blitzte im Licht der Geburtstagskerzen.
Emily kannte den etwas überheblichen Gesichtsausdruck, die blauen Augen, die ein wenig spöttisch, aber auch ein wenig ängstlich in die Welt blickten, die braune Hornbrille, von der man nicht wusste, ob sie eigentlich out oder schon wieder in war. Das weiße Hemd mit der blauen Krawatte und der marineblaue College-Pullunder. Und über allem die korrekt gescheitelten Haare.
»Jonathan!«, sagte Emily.
Er. Hier auf dem Sessel ihres Daddys. Und dann sah sie ihn vor ihrem inneren Auge. Sie sah ihn bei der ersten Begegnung auf der College-Party im Tutu’s am vergangenen Freitag. Sie sah ihn in den schwärmerischen Berichten von Julia. Und sie sah ihn vor zwei Tagen in der Bibliothek, als sie mit Ryan über John Milton und Paradise Lost gebrütet hatte.
Jonathan. Der Freund ihrer besten Freundin.
»Emily«, sagte Jonathan, und wies auf einen Sessel neben ihm im großen Wohnzimmer. »In einer knappen Stunde ist dein Geburtstag. Du hast dir einen Scotch verdient.«
Aus dem Halbdunkel kam eine Gestalt mit einem Tablett in der Hand. Der Mann war als Butler verkleidet, doch Emily sah sofort, was nicht an ihm stimmte. Die Zähne waren zu schwarz, die
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