Spiel des Lebens 1
was ist das?«
»Die Wahrheit.«
Damit unterbrach sie die Verbindung.
Hatte sie das Gespräch zu abrupt beendet? War sie fair zu ihrer Mutter gewesen? Nein, es ging nicht anders. Die Wahrheit. Das war es, was sie wollte. Endlich mit ihren Eltern über ihre Vergangenheit zu reden. Endlich herauszubekommen, was sie wussten und was sie vor ihr verheimlichten.
Und vor allem, warum.
Noch lange stand sie so da, das Handy in der Hand. Es fühlte sich gut an, was sie getan hatte. Nicht dass sie ihre Mum angebrüllt hatte, das tat ihr schon jetzt leid. Aber sie hatte ihr Leben selbst in die Hand genommen. Sie hatte bestimmt. Und Emily schwor sich, nie wieder das Gefühl zuzulassen, von jemand anderem fremdbestimmt zu sein, egal, ob diese Person sie schützen oder vernichten wollte.
41
E mily hatte ein paar Sachen zusammengepackt und war mit ihrer Tasche und ihrem Rucksack auf dem Weg zur Westminster Station. Sie war spät dran, aber sie beeilte sich trotzdem nicht. Es kam ihr vor, als ob sie nach langer Krankheit das erste Mal an der frischen Luft war. Allein U-Bahn fahren, ohne die breiten Schultern von Jim und Matt im Hintergrund. Ohne die Gefahr im Nacken. Circle Line Richtung Westen, und dann wäre sie nach ein paar Stationen schon direkt in Notting Hill Gate. Sie schaute auf die Uhr. Schon fast Viertel nach neun.
Egal, dachte sie und genoss den Luxus, endlich mal wieder die Stadt auf sich wirken zu lassen, anstatt ständig damit zu rechnen, dass der Irre von irgendeiner Seite wieder zuschlagen würde. Der Irre. Der Spieler. Der jetzt leider einen Namen hatte. Ryan.
Ryan. Richtig fassen konnte sie es immer noch nicht, dass gerade Ryan ihr so etwas angetan hatte. Doch was wäre besser gewesen? Dass es nicht Ryan wäre, sondern jemand anderes und dieser jemand immer noch frei herumlief? Und wenn Ryan wirklich zu so etwas fähig war, hatte sie es Gott sei Dank nicht zu spät herausgefunden. Denn sie war kein Killer-Groupie.
Eigentlich konnte es ihr egal sein. Was immer doch noch passieren würde, was immer sich über Ryan bewahrheiten würde, sie sagte sich, dass es schlimmer nicht kommen konnte. Sie hatte all ihre Albträume in der Realität erlebt. Wovor sollte sie jetzt noch Angst haben?
Sie blickte über die Themse, wo einzelne Stadtrundfahrtboote unter der Westminster Bridge hindurch fuhren und die Guides irgendwelche belanglosen Informationen in ihre Mikrofone blökten. Emily hörte nur mit einem Ohr hin.
Sie steuerte die Westminster Station an und musste an den ersten Tag im College denken, als Julia, Ryan und sie mit der Central Line von Westminster nach Temple gefahren waren, zu ihrem ersten Tag am King’s College. Das war erst eine Woche her. Da war die Welt irgendwie noch in Ordnung gewesen. Oder war sie es jetzt wieder?
Sie steckte ihre Monatskarte in den Schlitz an der Schranke, die sich mit einem schnappenden Geräusch öffnete. Hatte irgendwie etwas Brutales, wie diese Dinger sich öffneten, dachte Emily. So als würden sie sich auf die gleiche Weise schließen und jedem Eindringling ohne Ticket mit einem lauten krachenden Geräusch die Beine brechen.
Sie stieg die Treppen hinunter bis zu den Rolltreppen, die in die technisierte Unterwelt führten.
Am Bahnsteig standen Pendler und einige Studenten, an der Rampe nach oben hockte ein Straßenmusiker mit einer Gitarre, der etwas schief »Let it be« sang.
Let it be, dachte Emily. Damit bist du selbst gemeint. Lass das Grübeln! Hör endlich auf, dir Sorgen zu machen. Sei froh, dass der Albtraum vorbei ist.
Mind the gap!
Die gleichzeitig quakende und mahnende Stimme schallte über die Bahnsteige, als sich die Jubilee Line mit kreischenden Rädern näherte und allmählich abbremste. Die Türen öffneten sich zischend, während ein ganzer Schwung an Menschen aus der U-Bahn heraus quoll wie Zahnpaste aus einer Tube. Emily wartete, bis sich die Massen verflüchtigt hatten, stieg in den Wagen und suchte sich einen Platz am Fenster.
Mind the gap.
Noch einmal.
Dann schlossen sich die Türen mit demselben Zischen und die Bahn nahm Fahrt auf, erst langsam und dann schneller, bis die vergitterten Neonlampen an den Tunnelwänden nur noch wie huschende Gespenster vorbeizogen.
Die Bahn würde sie nach Hause bringen, erst nach Victoria, dann Sloane Square, dann South Kensington und dann irgendwann nach Notting Hill Gate. Und sie fühlte sich nicht eingeengt, nicht erdrückt von den Wänden des Waggons und dem Dunkel der Tunnel. Sie fühlte sich sicher.
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