Spiel des Lebens 1
Augen zu glasig und die Haare zu fettig. Auf dem Tablett balancierte er reichlich ungeschickt ein Glas Whisky mit drei Eiswürfeln.
Sie schaute sich um. Hinter ihr schlossen sich die Reihen weiter, dunkle Gestalten im halb erleuchteten Korridor, die ihr den Rückweg abschnitten. Sie kannte ihre Gesichter. Sie hatte einige von ihnen gesehen. Zwei von ihnen waren am vergangenen Freitag in der U-Bahn-Station gewesen und hatten die Vergewaltiger getötet. Einer von ihnen war Dave, der falsche Leibwächter, der wieder seine seltsame Sonnenbrille trug, die ihm etwas Libellenhaftes gab und der sie mit schiefen Zähnen angrinste. Andere Gesichter tauchten auf, die sie irgendwann irgendwo schon einmal gesehen hatte. Wahrscheinlich weil sie sie überwacht hatten. Weil sie überall waren. Wie der Wind. Wie der Sand. Wie das Böse.
Wie ferngesteuert ging sie ein paar Schritte nach vorn und setzte sich auf den Sessel neben Jonathan, nahm das Glas vom Tablett des falschen Butlers, trank einen Schluck Whisky, der eine Schneise aus Lava und Feuer durch ihre Speiseröhre zog, brennend und angenehm zugleich, während das Eis ihre Lippen kühlte.
Feuer und Eis.
Liebe und Hass.
Leben und Tod.
Und jetzt, als der Whisky auch ihren Magen in einen wohlig warmen Ofen verwandelte, konnte sie zum ersten Mal wieder klar denken, konnte ihr Bewusstsein aus der Masse all der Eindrücke herausziehen, sodass sie wieder die Übersicht hatte und sich die Wellen all des Absurden und Grotesken nicht ständig über ihr schlossen und ihr keine Luft mehr zum Atmen ließen.
Vier Fragen waren sofort in ihrem Kopf.
War Jonathan der Spieler?
War Ryan unschuldig?
Wo waren ihre Eltern?
Und was würde jetzt mit ihr geschehen?
Die erste Frage hatte sie sich schon selbst beantwortet und die zweite eigentlich auch, denn sowohl ihr Geist als auch ihr Instinkt waren überzeugt: Es war Jonathan, der all das getan hatte. Der ihre letzten Tage in einen niemals endenden Albtraum verwandelt hatte. Der mit ihr Das Spiel des Lebens gespielt hatte.
Aber genau wie bei Ryan blieb das eine:
»Warum?«
Jonathan trank mit spitzen Lippen von seinem Whisky, zog an seiner Zigarre und schaute sie einige Sekunden unverwandt an.
»Warum, Emily?«, echote er. »Warum? Warum, willst du wissen?« Er schob sein Kinn nach vorn.
»Weil jetzt Payback-Zeit ist. Weil jetzt die Karten neu gemischt werden. Weil ich jetzt das bekomme, was mir zusteht. Und du das, was dir zusteht. Oder besser, was du verdienst.«
Willkommen zum Spiel des Lebens, dachte sie. Du hast die Wahl: Sieg oder Tod.
Sie schaute sich um. Ihr Handy lag auf der Kommode, dazwischen waren mindestens zwanzig Squatter, an den Türen zum Wohnzimmer waren ebenfalls dunkle Schatten. Sie war umringt von diesen Typen. Und der Irre, Jonathan, sie konnte es noch immer nicht glauben, mitten unter ihnen auf dem Sessel ihres Dads in ihrem Wohnzimmer. Doch worüber wunderte sie sich eigentlich noch? Er war ja anscheinend schon mehrfach in diesem Haus gewesen, er hatte die Fotos von Drake gemacht und die Nachricht an seinem Halsband hinterlassen. Und jetzt war sie direkt in die Falle gelaufen, direkt in das Netz der Spinne. Weil sie gedacht hatte, der Irre wäre Ryan. Aber der Irre war nicht Ryan, der Irre war Jonathan, und er war hier.
Und Ryan war in Untersuchungshaft, unschuldig, und damit so weit es nur ging von ihr entfernt. Und ihre Eltern? Was war mit ihren Eltern passiert?
Seltsamerweise blieb sie ruhig. Wahrscheinlich war es die Jahrtausende alte Fähigkeit des menschlichen Gehirns, in wirklich brisanten Situationen die Ruhe zu bewahren, so wie vor ein paar Tagen im Keller, diese Fähigkeit, die Emily davor bewahrte, zu schreien oder etwas Unkluges zu tun. Was ihr wahrscheinlich zunächst das Leben rettete.
»Falls du dich wunderst, wo deine Eltern sind«, sagte Jonathan und zog genüsslich an der Zigarre. »Mach dir da mal keine Sorgen. Deine Mum ist vor einer Viertelstunde Richtung Wohnheim gefahren.«
»Warum sind sie einfach…«, fragte sie, da sprach Jonathan schon weiter.
»Sie haben eine SMS bekommen«, sagte Jonathan lächelnd. »Von dir!«
»Von mir?«
»Na ja, sagen mir mal, von einem Handy mit deiner SIM -Karte.« Jonathan hielt das Whiskyglas gegen das Licht.
»Aber ich habe doch mein Handy noch.« Ihr Blick flog wieder Richtung Kommode, wo das Handy lag. Was hatten diese Typen getan?
»Dein Handy schon«, sagte Jonathan, »aber nicht die Karte.« Er lächelte in sich hinein. »Erinnerst du dich
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