Spiel des Lebens 1
wenige Stunden.
Sie würde kommen.
Und er würde sie erwarten.
Und Ryan?
Tja, der war das Bauernopfer. Wenn er Glück hatte, würde die Polizei ihren Irrtum bemerken. Wenn er Pech hatte, wanderte er in den Knast.
Emily hingegen würde früh genug merken, dass die Gefahr noch längst nicht zu Ende war.
Im Gegenteil, sie war größer als je zuvor.
Die Leibwächter waren weg.
Ryan war weg.
Ihre Eltern waren weg.
Und Emilys Vorsicht war weg.
Aber ER , ER war noch da.
44
E s musste einen Total-Stromausfall gegeben haben, denn es gab nicht mal eine Durchsage. Keine Information, was passiert war, kein Hinweis, wann es wieder weitergehen würde, keine Notstrombeleuchtung.
Nichts.
Sie war gefangen.
In der Dunkelheit.
Diesmal nicht allein, sondern mit all den anderen Passagieren. Was nur auf den ersten Blick besser erschien, als allein im College Keller eingesperrt zu sein. Auf den zweiten Blick wurde ihr klar, dass sie allein im College Keller bei einer Massenpanik, die im Dunkeln ausbrechen konnte, nicht zerquetscht worden wäre.
Hier schon.
Und während es in dem Keller, in dem der Irre sie eingesperrt hatte, wenigstens ein bisschen Licht gab, war hier alles stockfinster. Einzig ein paar Mobiltelefone, mit denen die anderen Passagiere durch die Gegend leuchteten, erhellten die Dunkelheit.
Eingesperrt.
Schon wieder.
Ihr war, als würden sich die Wände auf sie zubewegen, nicht nur die Wände des Waggons, sondern die Tonnen von Gestein und Geröll über ihr, als würden sie unweigerlich einstürzen und Emily und die anderen Fahrgäste in einem schweigenden Grab zurücklassen.
Sie hörte das Raunen der anderen Fahrgäste. Dann eine Durchsage mit den üblichen Floskeln. Die Fahrt geht gleich weiter. Bitte haben Sie einige Minuten Geduld.
Einige Minuten . Das konnte bei Flugzeugen und Bahn auch eine Ewigkeit bedeuten.
Sie merkte, wie die anderen Fahrgäste irritiert auf ihre Handys starrten. Emily blickte selbst auf ihr Handy, sah keinen der vier Balken, die normalerweise die Stärke des Empfangs zeigten. Was so viel hieß, dass es wirklich keinen Empfang gab. Gleichzeitig hörte sie die Stimmen der anderen Passagiere, die Schwingung in der Stimme, wenn sich Unbehagen allmählich in Panik verwandelt, wenn der sanfte aber beständige Zahn des Wahnsinns allmählich an der Vernunft nagt und all die Grauen und Schrecken der Nacht sich in der unterirdischen Finsternis manifestieren und zu leben beginnen.
Atme, dachte Emily. Atme tief durch. Denke an irgendetwas Schönes.
Das Atmen gelang ihr, wenn auch nicht so tief, wie sie es eigentlich wollte. Doch anstelle der schönen Dinge, sah sie nur Zeichen der Dunkelheit und der Hoffnungslosigkeit, die vor ihrem inneren Auge vorbeizogen.
Dunkle Höhlen, mondlose Nächte, Grabsteine, zugeschüttete Stollen und Gänge. Und Knochen. Knochen, die man irgendwann in einem U-Bahn-Waggon fand, der auf den Schienen gestanden hatte. Jahre. Jahrzehnte.
Doch würde das passieren? Wenn der Strom ausgefallen war, dann gab es vielleicht auch keine Warnsignale mehr auf den Gleisen. Wie lange konnten sie überhaupt hier stehen, bevor eine andere U-Bahn kommen würde? Eine andere U-Bahn, die sich mit einem fräsenden, knirschenden Geräusch in diese Bahn hineinfressen würde, eine Spur aus verbogenem Blech, zerquetschten Körpern und Blut, Schmerz und Tod hinter sich lassend?
Emily merkte, wie sie sich den Mund zuhalten musste, um nicht laut loszuschreien.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gesessen hatten. Sie wusste nicht, ob sie zwischendurch das Atmen vergessen hatte. Sie wusste nur, dass sich der Waggon irgendwann, nach einer halben Ewigkeit, ganz selbstverständlich wieder in Bewegung setzte und ein paar Meter durch die Dunkelheit fuhr, einem Geisterzug gleich. Dann ging mit einem Zischen das Deckenlicht an. Emily kniff die Augen zusammen.
Sie schaute auf die Uhr.
22:16 Uhr.
Verflixt, wie lange hatte sie in diesem verdammten Zug gesessen?
»Nächste Station. South Kensington.«
Sie sprang auf. Keine Sekunde länger mehr würde sie in dieser verfluchten Bahn bleiben, die wahrscheinlich zwischen dieser Station und der nächsten wieder Ewigkeiten stehen würde, ein fahrbarer Sarg, der sich immer wieder ein neues Grab aussuchte.
Sie sprang auf, hetzte durch die Tür, bevor sich der Strom der anderen Passagiere in Bewegung setzte, die alle die gleiche Idee wie Emily hatten. Und sie konnte auch gar nichts anderes tun als auszusteigen, denn da kam schon die Durchsage,
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