Spiel des Todes (German Edition)
loslassen!« Die Arme rutschten auf ihre
Hüften.
Es war ein Alptraum. Sein Adamsapfel schnellte zweimal auf und
nieder, als bemühte er sich, etwas zu schlucken. Dann wirkten seine Kehle und
der Hals auf einmal wie aus Stein gemeißelt. Jeder Muskel trat hervor, jede
Sehne, jedes Blutgefäß war perfekt modelliert wie auf einem Relief. Der Hals
sah aus wie der eines Mannes, der versucht, allein ein Auto zu stemmen oder ein
Klavier zu tragen.
»Helfen Sie mir doch!«, rief sie, so laut sie konnte. »Dieser Mann
belästigt mich.«
Niemand nahm sie wahr. Sie war eingekeilt. Wie festgefroren. Tränen
rannen über ihre Wangen und gruben sich in ihr Make-up.
Ihre Umhängetasche! Sie bekam die Hände frei und ruckelte am
Reißverschluss.
Die Hände des Fremden rutschten tiefer.
»Hilfe!«, schrie sie aus Leibeskräften. Doch es war eher ein
Ablenkungsmanöver als ein ernst gemeinter Versuch, Aufmerksamkeit zu erhalten.
Ihre Hand umschloss die Dose.
»Da!«, schrie sie und sprühte. In ihrer Hand pochte es.
Der Hals vor ihr schrumpfte. Hände zuckten empor und verkrampften
sich um die Augen. Gelbe Zähne im offenen Mund. Glänzender Speichel im Licht
der hochstehenden Sonne.
»Clara! Was machst du?« Eine vertraute Stimme. Endlich!
In fünf Worten erklärte sie Rico Stahl die Situation.
Er nickte. »Komm«, sagte er bestimmt, schuf sich gewaltsam eine
Gasse und zog sie mit.
Ohne einen Blick zurück folgte sie ihm.
»Wo wollt ihr hin?« Hummers wohltönende Stimme.
»Raus hier. Was sonst?« Rico warf Hummer einen galligen Blick zu,
während er sich mit Clara an der Hand vorsichtig wie auf einer dünnen Eisdecke
bewegte. »War nicht die beste Idee, auszusteigen. Wo ist eigentlich der Fahrer
mit dem Auto?«
Clara wollte diese Nähe nicht. Sie entzog Rico ihre Hand.
»Brav!«, sagte Hummel halblaut. Irgendwie hatte er es geschafft,
neben sie zu rutschen. Er fasste sie an der anderen Hand.
Abwehr regte sich. Clara war zwischen Hyänen eingeklemmt. Sie
klemmte die Innenseite ihrer Wangen zwischen die Zähne. Sie sehnte sich nach
Adrian.
»Da vorn!«, rief Hummer und deutete nach Osten. »Der Cadi.« Die
Menschenmenge wurde lockerer und hatte sich geöffnet.
Hummer blickte zu Clara zurück.
Clara erhaschte seinen Blick. Er verhieß nichts Gutes. Wart’s ab,
las sie aus seinen Augen. Nur eine Sache der Zeit, dann krieg ich dich.
Adrian Luger lehnte lässig am warmen Blech des Escalade. Er streckte
die Arme nach ihr aus, als er sie sah, und kam ihr entgegen.
Clara rannte und warf sich an seine Brust.
»War was?«, fragte er. »Dein Make-up ist demoliert. Ist dir ein
Geist begegnet?«
Sie winkte ab und schüttelte den Kopf. »Ach, nicht der Rede wert.«
Luger blieb ungerührt. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken.
Clara wusste, dass sie eine schlechte Lügnerin war.
Als Klein-Maria acht oder neun Jahre alt ist, kommt auf dem Hof in
Gapperding ein Schäfchen zur Welt, das rundum schwarz ist mit weißer Maske und
weißen Pfoten, die wie Badelatschen aussehen. Miss Hühnerfell tauft sie das
Lämmchen. Eines Tages bringt der Paketzusteller ein Paket, das ihr Vater
bestellt hat und das Schulsachen für sie enthält – Stifte, Hefte, Radiergummi,
ein kleiner Rucksack. Beim Rückwärtsfahren überfährt der Zusteller Miss
Hühnerfell. Maria muss mit ansehen, wie das arme Schäfchen von den Hinterrädern
erfasst, unter dem Lieferwagen regelrecht zerquetscht und von den Vorderrädern
noch einmal überfahren wird. Sie weint bitter und hat ein schlechtes Gewissen.
Sie fühlt sich schuldig, weil das Paket für sie gewesen war. Vater darf von dem
Unglück nichts erfahren.
Maria klaut ein leeres Paket aus dem Zustellauto, holt Heu aus der
Scheune und bettet Miss Hühnerfell hinein. Dabei fällt ihr auf, dass das Tier
noch lebt, obwohl die blutigen Gedärme aus dem Hintern herausquellen und die
weiße Maske eine einzige Matsche ist. Maria will Miss Hühnerfell streicheln und
fährt ihr sanft über den blutigen Kopf. In einem letzten Aufbäumen beißt das
Schäfchen Maria in die Hand, in die empfindliche Hautfalte zwischen Daumen und
Zeigefinger. Danach stirbt Miss Hühnerfell. Der Biss ist ein schlimmer Schmerz
für Maria. Doch das elende Gefühl des Mitleids und der Trauer ist viel
schlimmer. Selten hat sie so etwas später noch einmal empfunden.
Die Kiste mit dem toten Tier zerrt sie die hundert Meter hinunter
zum Weiher und rennt zum Vater, denn sie findet, ihre Wunde müsse behandelt
werden. Nur kann sie
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