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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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an der Türklinke fest und stellte sich breitbeinig hin, um wenigstens scheinbar Halt zu haben. Was sollte die Nummer mit dem Mann im Müll? Woher, um Himmels willen, wusste Roggenmeier von Harry? Hatte Wesseling geplaudert? Ja, klar, wer sonst? Hatte er seinem eifersüchtigen Herzen Luft gemacht? Kleingeist!
    Sonja überlegte, die Tür zuzuwerfen und die Begegnung zu einem Traum zu erklären. Ein böser Traum zwar, aber nur ein Traum. Doch ein Fuß in schmalen Riemchen-Sandaletten stand bereits auf der Schwelle, ein nackter Fuß, und sie brachte es nicht über sich, ihn einzuklemmen.
    »Moment!«, rief die Gepunktete. »Ich hole nur schnell sein Kind.«
    Sein Kind?
Während die Frau zum Auto lief, hätte Sonja die Tür nicht nur bequem schließen, sondern auch verriegeln können. Sie hätte Zeit gehabt, einen Stuhl zur Sicherheit unter die Klinke zu klemmen und sich oben in ihrem Schlafzimmer zu verbarrikadieren. Kopf unter die Bettdecke. Und sie hätte nichts lieber gemacht. Für den Rest ihres Lebens.
    Aber mitten im puren Entsetzen meldete sich ihr kleiner Hang zum Melodram. Ein Dolchstoß soll an der richtigen Stelle und tief sitzen. Ganz tief. Es muss richtig wehtun. Dazu musste sie unbedingt einen Blick auf
sein Kind
werfen. Hatte sie nicht geahnt, die ganze Zeit, dass ihre neue Liebe nur von kurzer Dauer sein würde? Hatte sie es nicht eben noch gedacht?
    Sein Kind
stand inzwischen neben dem Auto, das ein Kölner Kennzeichen hatte, und fuhr auf dem Kotflügel mit einem kleinen Spielzeugauto spazieren. Ein blonder Knirps im Matrosenanzug. Sein Alter konnte Sonja nicht einschätzen. Die Gepunktete nahm eine Kinderhand in die ihre und befahl: »Nun komm schon. Benimm dich, sonst …«
    Sonjas Gedanken flogen hin und her. Konnte es nicht sein, dass die Gepunktete nur die Überbringerin einer Botschaft war? Die Kinderfrau, die Schwester, die Tante, die Cousine …? Vergiss es! Blödsinn! Begrab deine Hoffnung an der Biegung des Flusses! Die Gepunktete war jung und schön. Sie passte zu Harry. Ende der Diskussion. Contenance, befahl sie sich, geheult wird später.
    Sein Kind ließ sich durch den Vorgarten über die Steinstufen bis hinauf zur Haustür ziehen und riss sich dort plötzlich los. Es ließ das Spielzeugauto die Steinstufen hinunterhüpfen und im Vorgarten landen. Es lief auf nackten, dicken, krummen Beinen hinterher, wobei ihm die unebenen Stufen fast zum Verhängnis wurden, aber es breitete gekonnt die Arme aus, um das Gleichgewicht zu finden. Es hinterließ nasse Fußspuren, wohin auch immer es tapste.
    »Lauf bloß nicht weg!«, rief die Gepunktete ihm nach.
    Sonja hatte der kurze Blick ins Gesicht seines Kindes gereicht. Sie war bedient. Nicht, weil sich da besonders viel Ähnlichkeit zum Herrn Papa auftat, sondern weil sein Kind süß und unschuldig war. Im Matrosenanzug. Niedlicher ging es wohl nicht. Aber wie es da, ganz ins Spiel vertieft, einen dicken Po in die Luft streckte und auf allen Vieren durch den Staub kroch, war es schrecklich real. Es war zum Sterben schrecklich.
    Noch einmal Gelegenheit, die Tür zu schließen und mit dem Abschiednehmen von Harry zu beginnen, aber da stand der nackte Fuß in der Riemchensandalette wieder auf der Schwelle, und Sonja war in der gleichen Bredouille wie vorhin.
    »Darf ich reinkommen?«, fragte die Gepunktete aufdringlich und ließ die beiden Fotos in ihrer roten Handtasche verschwinden.
    Sonja ließ sie eintreten. Beide Frauen schwiegen. Ein paar Minuten Bedenkzeit brauchte Sonja, um den Schal aus Lügen, den sie in ihrem Kopf begonnen hatte zu stricken, fertigzustellen. Weder der Gepunkteten noch irgendjemandem sonst auf dieser Welt – nicht einmal sich selbst – würde sie ihren Fehltritt eingestehen.
    Prüfend blickte die Gepunktete sich um. Sonja hatte nichts zu befürchten. Es gab keine Spuren im Forsthaus von Harry, außer einer ruinierten Küche. Alles, was er besaß, fuhr er in seinem Bus spazieren. Nicht einmal eine dreckige Socke würde seine Frau finden. Nicht einmal einen Kuli. Seine Marotte entpuppte sich nicht nur als gute Idee, sie schien plötzlich Teil eines großen Planes zu sein.
    Sonja steckte die Hände in die Taschen. Links stieß sie auf die zwei Würfel, mit denen sie oft
Mäxchen
gespielt hatten. Harry und sie. Ein Spiel, das auch
Lügen
hieß.
    »Schön warm haben Sie es hier drin«, sagte die Gepunktete und legte beide Hände an die grünen Kacheln des Ofens.
    Sonja nickte abwartend.
    »Haben Sie vielleicht einen Kaffee für

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