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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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der defekten Haustür kannte außer Harry nur einer: Wesseling. Hastig hatte Sonja eine Jacke übergezogen und war ihm entgegengeeilt, ehe er auf die Idee kommen konnte, oben nach ihr zu suchen. Harry hatte sie Anweisung gegeben, liegen zu bleiben und bloß keinen Mucks von sich zu geben. Während sie in der Wohnküche mit Wesseling Small Talk machte, den Zustand ihrer Küche und ihre Aufmachung mit einer leichten Erkältung erklärte und versuchte, ihn auf elegante Weise wieder loszuwerden, erschien Harry leicht verschwitzt in der Tür. Er hatte auf eine Jacke verzichtet, auch auf seine Kroko-Stiefel.
    Wesseling starrte auf seinen nackten Oberkörper, das silberne Amulett auf seiner nackten Brust, die nackten Beine, die aus zerknitterten Schlafshorts herausragten, die nackten Füße. Sein Blick wanderte von dort wieder nach oben zu seinen zu Berge stehenden Haaren und kehrte zurück zum Amulett auf der nackten Brust. Es hing an einem dünnen, schwarzen Lederband, und Wesseling fixierte das runde, keltische Kreuz.
    Harry streckte ihm seine Hand entgegen, die Wesseling einfach übersah. Auch Harry musterte sein Gegenüber. Wesseling war wie stets tadellos gekleidet. Selbst an einem heißen Sommertag trug er Hemd, Schlips, Anzug. Seine Frisur saß perfekt, er trug noch immer den akkuraten Mittelscheitel. Harry genoss die Situation, legte Sonja den Arm auf die Schulter, zog sie an sich und stellte sich vor. Sonja, steif vor Schreck, brachte es nicht fertig, ihm Wesseling vorzustellen, oder Wesseling ihm.
    Wesseling brachte sein übliches »Je nun« zustande und wand sich, als säße er in einer besonders heimtückischen Falle. Er murmelte Unverständliches und verließ fluchtartig das Terrain. Sonja jagte ihm nach, um Erklärungen abzugeben, aber er knallte ihr die Autotür vor der Nase zu und brauste davon, als sei der Teufel hinter ihm her. Seitdem hatte er nichts mehr von sich hören lassen.
    Sonja bückte sich unter der Stiege und betrat den Abstellraum. Das Vorratsregal war leer geräumt. Harry, der leidenschaftliche Koch, musste in den letzten Wochen alles verkocht haben, ohne für Nachschub zu sorgen. Sonja konnte sich nicht erinnern, wann sie selbst das letzte Mal einkaufen war. Er hatte die Küche zu seinem Revier erklärt. Als sie über einen Besenstiel stolperte, hörte sie ein Geräusch, das sich anhörte, als hämmerte jemand gegen die Haustür.
    Tok. Tok. Tok.
    »Jemand zu Hause?« Eine weibliche Stimme.
    Das Auto von vorhin! Eine Frage nach dem Weg, es kam ab und zu vor. Fremde konnten sich nicht vorstellen, dass es nur eine Möglichkeit gab, Wolfgarten per Auto zu verlassen oder zu erreichen.
    Sonja öffnete die Haustür einen Spaltbreit, um zu sagen: »Hier geht’s nicht weiter. Sie müssen wenden und den gleichen Weg zurücknehmen.« Schon schob sie die Tür wieder zu und kehrte in die Küche zurück.
    Tok. Tok. Tok. »Hallo!«
    Da war jemand lästig. Sie zog die Lederjacke von den Schultern, schlüpfte in die Ärmel und zog den Reißverschluss hoch. »Was ist denn noch?«, fragte sie ungeduldig und riss die Tür auf.
    Vor ihr stand eine elegante, junge Frau im gepunkteten Sommerkleid. »Sind Sie Frau Senger?«
    »Ja«, brummte Sonja. »Und?«
    »Gott sei Dank. Ich habe Sie überall gesucht.« Sonja zog die Stirn in Falten. »Sie bearbeiten doch den Mann im Müll, oder?«
    »Wer sagt das?«
    »Kommissar Roggenmeier.«
    »Wenn schon, dann Hauptkommissar Roggenmeier, wenn ich bitten darf«
    »Aber er ist doch Ihr Chef, oder?«
    »Was geht das Sie an?«
    »Er schickt mich. Ich möchte wissen, ob es sich dabei um diesen Mann handelt. Warten Sie …«
    Während die Frau ihre Handtasche durchwühlte, dachte Sonja, dass es eigentlich praktisch sei, dass endlich jemand nach dem Mann im Müll fragte. Endlich ein Puzzleteil und bequem frei Haus geliefert. Andererseits wurmte es sie, dass Roggenmeier ihre Privatadresse herausgegeben hatte. Sein kleiner privater Racheakt?
    Die Gepunktete war fündig geworden und streckte Sonja zwei Fotos entgegen. Sonja beugte sich vor, und der Boden unter ihren Füßen schien sich plötzlich zu bewegen, als stehe sie an Deck eines Schiffes. Sie spürte, wie ihr Kinn auf die Brust fiel, die Schultern zusammensackten, die Knie nachgaben, als habe jemand ihr einen Sack Kartoffeln über den Kopf geschüttet. Krampfhaft hielt sie sich an der Türklinke fest.
    Auf dem linken Foto war Harry abgebildet, ein Portrait. Auf dem rechten sein Bus, eine Halbseitenaufnahme.
    Sonja hielt sich

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