Spiel mir das Lied vom Wind
Spiel seines Lebens. Er würde frei sein. Frei und reich. Das Leben war ein Spiel.
Als Krux sich hinlegte, klopfte sein Herz schnell. Er versuchte zu schlafen, aber seine Augenlider flatterten. Adrenalin durchflutete seinen Körper. Er wälzte sich von einer Seite zur anderen, wusste nicht wohin mit Beinen und Armen, als ein stetig wiederkehrendes, schleifendes Geräusch in sein Bewusstsein drang. Sein Ohr fand einen Rhythmus wie bei einem Lied: Tamtamtam, tamtamtam, tamtamtam.
Ruhelos stand er wieder auf und kletterte aus dem Bus. Das Geräusch war direkt über ihm. Zwischen den schwarzen Bäumen ragte ein weißer Betonpfeiler hoch in den Himmel hinein. Keine zehn Meter von ihm entfernt. An seinem Ende drehte sich ein riesiger Propeller, drei weiße Flügel, langsam wie die Zeiger einer Uhr. Tamtamtam, tamtamtam, tamtamtam. Der Wind, den sie zu ihm herunterwehten, war warm und weich und roch nach Sommer.
Als er ein paar Schritte machte und sich weiter umsah, entdeckte er weitere, weiße Glücksbringer, die sich nach dem Wind drehten, synchron, nur für ihn allein. Rote Warnlichter flackerten an ihren Flügelenden auf, wie die Lichter eines Spielautomaten. Sie lockten ihn. Komm! Spiel mit uns!
Krux lachte in die dunkle Nacht hinein. Es fühlte sich an, als hätte er getrunken. Er breitete die Arme aus und drehte sich mit ihnen im Kreise, er tanzte, bis ihm ganz schwindlig wurde, und sang aus voller Brust:
The answer my friend, is blowing in the wind
...
6. Kapitel
Der 22. Juni war offiziell der erste Sommertag in jedem Jahr. Aber Meteorologie schien nicht viel mit Wetter zu tun zu haben. Denn was sich da draußen zusammenbraute, konnte niemand Sommer nennen. Es war trist und kühl, keine 20 Grad. Irgendwie schienen Mensch und Natur in Wartestellung vor der großen sommerlichen Entfaltung zu sein. Energien brannten auf Sparflamme. Hoffnungen waren gedämpft.
Sonja Senger war es recht. Es entsprach ihrem Innenleben.
Sie war auf dem Weg von Euskirchen nach Wolfgarten. Die Akte
Mann im Müll
lag neben ihr auf dem Beifahrersitz. Es war früher Abend, und die Straßen waren überfüllt. Der übliche Rückreiseverkehr der Pendler, dazu die unvermeidlichen Lkw-Kolonnen. Sie hatte Überstunden gemacht. Freiwillig und ohne sie zu notieren.
Seit Krux aus ihrem Leben verschwunden war, schnell und spektakulär wie er es betreten hatte, hatte sie Trost und Ablenkung und sogar ein wenig Erfolg beim Mann im Müll gefunden, dessen Schicksal noch voller Geheimnisse war, auch wenn sich das Dickicht allmählich lichtete.
Die Identität des Mannes schien endlich geklärt. Zwei Kollegen von der Verkehrssicherung hatten am Morgen einen völlig demolierten Kombi am Ortsrand von Wintzen gefunden. Der Hinweis war von einem Waldarbeiter gekommen, der jeden Tag an der Stelle vorbeifuhr. Laut Kennzeichen war der Pkw auf einen gewissen Peter Reiners zugelassen, wohnhaft in Schleiden-Wiesgen, Talstraße.
Die herbeigerufene Kriminaltechnik stellte bei der Inaugenscheinnahme des Autos Fingerspuren sicher, die mit denen des Toten aus dem Müll übereinstimmten. Man sammelte Reste einer weißen Baumrinde, Holzsplitter, Späne und Sägemehl ein und spürte eine Visitenkarte auf, die zwischen zwei Sitze gerutscht war. Sie gehörte dem Fahrzeughalter, Peter Reiners, Computerspezialist. Und die Untersuchung der Haare auf der Rücklehne des Fahrersitzes machten das Bild rund.
Wenn die Baumrinde von einer Birke stammte, war er dann doch ein Maikönig gewesen? Mit dieser Frage im Kopf hängte Sonja Senger sich ans Telefon und versuchte, Familienangehörige aufzufinden.
Peter Reiners Eltern waren geschockt und bestürzt und wollten ihren Sohn sofort sehen. Sonja riet ihnen davon ab. Vater und Mutter hatten wenig Kontakt zu ihm gehabt. Sie konnten nicht sagen, wo er sich zuletzt aufgehalten hatte. Namen seiner Freunde kannten sie nicht. Von einer Freundin wussten sie nichts. Arbeitskollegen gebe es vermutlich keine, da ihr Peter selbstständig in der Computerbranche tätig sei und von zu Hause aus arbeite. Als Sonja um ein Foto bat, meinten sie, sie hätten nur welche von früher, aus seiner Jugendzeit. In der Altersberechnung hatte der Bonner Rechtsmediziner gut gelegen: Peter Reiners war 39 Jahre alt, als er ermordet wurde.
Gewöhnlich liebte Sonja Puzzlespiele dieser Art, besonders wenn keine Eile bestand, die einzelnen Teile zu finden. Es galt in diesem Fall kein Leben zu retten. Dazu war es bereits zu spät.
Sonja gab die Ergebnisse an
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