Spiel mir das Lied vom Wind
erleben durfte, wie er später Beatrix ausführlich erklärte. Er fühlte sich wie befreit, erlöst von den nagenden Zweifeln und der bohrenden Schuld. Warum war er nicht eher darauf gekommen? Nichts hatte näher gelegen.
Er glaubte seine Mutter vor sich zu sehen, wie sie ihm über die Wange strich und zahnlos lächelte und mit schwacher Stimme murmelte: »Mein kleiner Johan! Jetzt kann ich in Ruhe sterben.«
Nach diesem denkwürdigen Autoschaden legte Johan los. Das Feld, auf dem er sich betätigen konnte, war weit. Er fand zwei Gesinnungsgenossen, Adrian Skyler und Willem Roosevelt, Freunde im Geiste. Der eine war ein freier Journalist, der andere Fotograf. Johan fand ein Blatt, das bereit war, die Erkenntnisse an die Öffentlichkeit zu bringen, das
Rotterdamse Handelsblad
. Sie nannten sich die Gruppe KSR. K für Kessel, S für Skyler und R für Roosevelt. Beatrix las ihre Artikel nicht.
Aber sie wusste, dass er sie seiner Mutter zeigte und auf ein Lob hoffte. Dass sie es aussprach, bezweifelte Beatrix. Was er seiner Mutter beweisen wollte, wusste sie nicht. Sie ahnte es höchstens. Die alte Dame musste – ebenso wie er und Adrian und Willem – ein Problem mit Deutschland haben. Offensichtlich ein so großes, dass sie nicht sterben konnte, ehe nicht die ganze Welt wusste – ja, was denn?
Es ging also nicht nur um Technik in dem Ehrenwort, sondern auch um Deutschland, reimte Beatrix sich zusammen. Alles sprach dafür.
Denn Johan widmete sich nach jener Initialzündung zwei Jahre lang der deutschen Autoindustrie, zwei Jahre dem deutschen Schiffs-und Werftbau, zwei Jahre der deutschen Photovoltaik, und seit sechzehn Monaten nun schon der deutschen Windenergie.
Auch der diesjährige Sommerurlaub hatte nur der deutschen Windkraftenergie gegolten. Von Erholung war keine Rede.
Vor Reiseantritt hatte Johan van Kessel sich aus dem Internet alle neuen Standorte von bestehenden oder geplanten Windparks in der Eifel heruntergeladen und in eine Karte eingetragen.
Während Beatrix im Wohnwagen saß und strickte, hatte er unendlich viele Fotos geschossen, er hatte Windräder bestiegen und Betreiber und Hersteller interviewt. Er hatte mit Anwohnern gesprochen und mit Investoren. Es hätte Beatrix nicht gewundert, wenn er auch die Kühe befragt hätte, die in der Nähe von Windparks grasten. Wenn Johan etwas machte, machte er es gründlich.
Mit den Jahren konnte Beatrix für Johans vermaledeites Ehrenwort immer weniger Verständnis aufbringen. Warum verschonte er sie nicht und reiste allein, um seine Fotos zu schießen? Warum ging es nicht ohne sie? Warum fuhr er nicht mit Adrian und Willem? Oder mit sonst wem?
Auch wenn sie sich immer wieder dieselben Fragen stellte, sie wusste die Antwort. Johan brauchte sie. Nicht nur, um zu kochen und zu spülen, sondern auch, um ihn zu ermuntern und zu bestärken. Sie fungierte als sein Vorpremiere-Publikum.
Wenn er am Abend zum Wohnwagen zurückkehrte, wo Beatrix den lieben langen Tag Reihe für Reihe gestrickt hatte – sie strickte für einen guten Zweck, den Weihnachtsbasar der Gemeinde – war sie es, der er seine neuesten Fotos auf dem winzigen Monitor der Digitalkamera als Erste vorführte. Ihr zuerst hielt er die Vorträge über seine neuesten Entdeckungen, die er notiert hatte, wieder und wieder korrigierte, ablas und schließlich auswendig aufsagte. Er ruhte nicht länger, bis sie druckreif waren.
Er ging wohl davon aus, dass auch Beatrix auf diese Weise mit den Jahren ein Grundwissen in der Kunst der Fotografie und in der technischen Beurteilung der dargestellten technischen Objekte angesammelt hatte, das sich sehen lassen konnte. Er wusste nicht, dass sie, während sie strickte, nur mit halbem Ohr zuhörte. Johan fand, sie waren ein eingeschworenes Team. Zusammen würden sie es schaffen. Alles für Mutter.
Beatrix fragte sich, was er machen würde, wenn er die Windräder abgearbeitet hatte. Würde Johan dann in die Luft gehen und sich die deutsche Flugzeugindustrie vorknöpfen? Dann würde sie endgültig streiken. Beatrix hasste es zu fliegen. Ihr wurde regelmäßig schlecht.
»Beatrix!« Johans Stimme in der Gegensprechanlage rief ungeduldig nach ihr. »Ist der Kaffee noch immer nicht fertig?«
»Doch. Gerade. Kommst du?« Sie legte schnell ihr Strickzeug beiseite.
Johan verschlang zwei Brote, schlürfte eine halbe Tasse Kaffee und forderte Beatrix auf, schnell alles wegzuräumen und ordentlich zu verzurren, sie hätten einen weiten Weg vor sich. Beatrix hatte
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