Spiel mir das Lied vom Wind
ihr Brot gerade erst belegt, keinen Bissen getan. Sie schlug es in Papier ein, um es später während der Fahrt essen zu können.
Johan koppelte den Wohnwagen ans Auto, sie bezahlten im Kiosk, verließen den Campingplatz und fuhren in Richtung A 1. Er stellte das Radio an. RTL spielte Oldies. Er schwieg. Sie strickte. Bis Rotterdam wäre der rosa Pullover für ein fünfjähriges Mädchen, das Beatrix nicht kannte, fertig. Zu Hause würde sie noch ein lustiges Motiv auf die Vorderseite sticken. Danach käme der rosa Pullover in einer Nummer größer an die Reihe. Die Zeit bis Weihnachten, sagte der Pfarrer, sei kürzer als man denke.
Zwei Tage später, ein Mittwoch, lud Johan van Kessel seine Freunde Adrian und Willem zur Abnahme der neuesten Fotos zu sich nach Hause ein. Es gab Grolsch, Genever, Tomatensalat, Brot und Chips. Beatrix hatte alles vorbereitet und fuhr mit dem Rad zu ihrer Schwester Henny. Sie mochte Johans Freunde nicht. Ihr ging das ewige Technik-Gerede auf den Geist.
Henny hatte zwei kleine Söhne und wollte mit ihrem Mann auf eine Party gehen. Beatrix spielte den Babysitter. Sie las ihren Neffen vor, bis sie eingeschlafen waren, schloss die Türe leise, lief hinunter ins Wohnzimmer und studierte die Fernsehzeitung. Ganz bewusst entschied sie sich für einen deutschen Spielfilm,
Wolke Neun
, der schon seit einer halben Stunde lief und nicht synchronisiert war. Da sie währenddessen strickte und nur ab und zu aufblickte, nutzten ihr die Untertitel nichts. Aber sie verstand genügend deutsch, um den Inhalt zu verstehen. Thema war die Liebe im Alter. Der Fall war hochdramatisch und erinnerte sie daran, dass zwischen ihr und Johan schon lange nichts mehr gelaufen war.
Kurz vor Schluss läutete das Telefon im Flur. Beatrix ging sofort an den Apparat, weil sie dachte, dass Henny vielleicht nachfragen wollte, ob mit den Kindern alles in Ordnung sei. Auch befürchtete sie, dass ein längeres Gebimmel die beiden aufwecken könnte.
Am Telefon war aber Johan. Er konnte kaum sprechen. Er hörte sich schrecklich an. Eine Sekunde dachte Beatrix, er könnte einen Schlaganfall gehabt haben. Wo steckten Adrian und Willem?
»Du … du … du musst sofort … herkommen«, stieß Johann stockend hervor.
»Das geht nicht, ich kann Jan und Rob doch nicht allein lassen. Was ist denn los? Geht es dir nicht gut?«
Johan wiederholte seinen Satz, als könne er keinen anderen mehr sprechen. Was war passiert? Beatrix dachte jetzt eher an einen Einbrecher, der ihm die Pistole an die Schläfe hielt und Willem und Adrian in seiner Gewalt hatte.
»Beatrix!«, rief Johan scheinbar mit letzter Kraft.
»Soll ich die Polizei rufen?«
»Nein!« Das Nein war so vehement, dass Beatrix' Befürchtung weitere Nahrung bekam.
»Einen Arzt?«
»Nein! Du …Es ist etwas passiert!«
»Was denn, um Himmels willen!«, schrie Beatrix.
»Das kann ich jetzt nicht sagen.«
»Wo sind Adrian und Willem?«
»Nach Hause.«
»Schon?« Das war ungewöhnlich. Johans Freunde waren schon weg? Normalerweise traf sie sie noch an, wenn sie zurückkehrte.
»Ja. Wir haben uns gestritten.«
»Gestritten?«, wiederholte Beatrix. Adrian und Willem waren friedlich wie Schafe. »Warum denn?«
Johan verschob die Antwort wieder auf später. Beatrix‘ Neugier wuchs. »Pass auf, Johan, ich versuche Henny auf ihrem Handy zu erreichen. Sobald sie mich abgelöst hat, komme ich, ja?«
»Sofort!«, bettelte Johan.
»Johan!«
»Sofort!«
»Das geht nicht.«
»Bitte!«
»Dann komm du hierher!«, schlug Beatrix vor.
»Das geht nicht.«
»Ich verstehe kein Wort. Wir machen es so, wie ich gesagt habe, ich rufe Henny an und melde mich wieder.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Beatrix auf. Sie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy, auf dem Hennys Nummer eingespeichert war. Ein Versuch, und sie wusste, dass Henny ihr mehr vertraute, als momentan günstig war, ihr Handy war ausgeschaltet. Beatrix rief wieder Johan an und vertröstete ihn. Er war wortkarg.
»Mach keinen Unsinn!«, ermahnte sie ihn, obwohl er nicht der Typ war, der sich umbringen würde. »Henny ist um Mitternacht zurück. Warte auf mich, ja? Ich beeile mich.«
Johan musste eine schreckliche Entdeckung gemacht haben. Und schrecklich für ihn konnte nur etwas sein, was mit dem Ehrenwort zu tun hatte. Man sollte niemandem den Tod wünschen. Aber Beatrix begann darüber nachzudenken.
Johan stand unten in der Haustür, als Beatrix atemlos um die Ecke geradelt kam. Er zog sie vom Sattel,
Weitere Kostenlose Bücher