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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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Auto. Wenn der Kaffee fertig war, musste Beatrix nur durch die selbstgebastelte Gegensprechanlage nach ihm rufen. Beatrix war fürs Essen und für die Wäsche zuständig. Johan hatte für solche Nebensächlichkeiten keine Nerven. Er war nicht zum Spaß unterwegs.
    Johans Ehrenwort hatte Beatrix es zu verdanken, dass sie wieder einmal in Deutschland und in den beengten Verhältnissen eines Wohnwagens hocken und sich die Zeit mit Stricken vertreiben musste, anstatt sich am Pool einer Hotelanlage am Mittelmeer zu räkeln.
    Nicht nur im Urlaub, auch die übrigen Tage und Monate eines Jahres kreisten Johans Gedanken um das Nachbarland. Nicht etwa, weil es für ihn touristisch reizvoll war, sondern weil er getrieben war von diesem geheimnisvollen Ehrenwort, das er seiner Mutter gegeben hatte, die seit genau acht Jahren und vier Monaten todkrank in einem Pflegeheim lag und sich weigerte zu sterben, ehe er es einlöste. Einem Ehrenwort, das so unnötig wie sinnlos war, wie Beatrix fand, obwohl sie nicht genau wusste, worin es bestand.
    Johan durfte es ihr nicht erklären. Es musste irgendetwas mit Technik zu tun haben. Von Technik verstand sie nichts, hatte Johan beschlossen.
    Er war Technischer Angestellter in leitender Position im Europoort von Rotterdam. Beatrix war stolz gewesen auf ihn und seine Karriere … Inzwischen musste sie sich eingestehen, dass ihre Bewunderung der Vergangenheit angehörte.
    Sie blickte zur Spüle. Der Kaffee von Douwe Egberts, der gerade durchgelaufen war, verbreitete einen angenehmen Duft. Johan bestand darauf, dass sie nur niederländische Produkte einkaufte. Alle Lebensmittel und Toilettenartikel, mit denen die Einbauschränke randvoll gepackt waren, hatten sie von zu Hause mitgebracht.
    »Wir kaufen nichts in Deutschland!« Johans Parole, sobald sie über die Grenze fuhren. Beatrix fand diese Einstellung reaktionär und veraltet. Aber sie hatte sich damit abgefunden, diskutierte nicht mehr mit ihm, sie fügte sich und ging deutschen Produkten sorgsam aus dem Weg. Das war nicht immer angenehm. Sie hätte nichts gegen ein frisches Brötchen am Morgen gehabt. Und nichts gegen frisches Gemüse und Obst von einem der vielen Märkte. Aber ihren Frieden zu haben, war Beatrix noch wichtiger.
    Neben der Grundausstattung für den täglichen Bedarf reisten umfangreiches Kartenmaterial und Johans Fotoausrüstung mit, die aus einer handtellergroßen Kamera und einem Netzkabel bestand. Die übrige Technik erwartete ihn in seinem Haus in Rotterdam auf der Hoghstraat Nr. 2. Dort musste Johan nach der Rückkehr aus dem Urlaub die daumennagelgroße Chip-Karte, die 425 Fotos speichern konnte, nur noch in seinen PC stecken, die Fotos bearbeiten und archivieren, sie per USB-Stick in seinen DVD-Player laden und sie in Abwesenheit von Beatrix zusammen mit seinen Freunden Adrian Skyler und Willem Roosevelt auf dem überdimensionalen Flatscreen begutachten und besprechen.
    Beatrix naschte von den Schokostreuseln. Sie könnten jetzt frühstücken und danach endlich die Heimreise antreten. Anstatt Johan zu rufen, griff sie aber wieder zum Strickzeug. Sie kontrollierte die Reihen, die sie gestern Abend gestrickt hatte. Ein kleiner Fehler hatte sich eingeschlichen. Sie zog die Nadel heraus. trennte zwei Reihen auf und begann von vorn.
    Acht Jahre und vier Monate waren eine lange Zeit. Johan war damals erst fünfundvierzig Jahre alt gewesen, als seine Mutter ins Pflegeheim kam und ihren Sohn in die Pflicht nahm. Seitdem hatte er sich verändert. Er war ruhelos geworden.
    Das erste Jahr danach hatte er damit verbracht, herauszufinden, wie er das Ehrenwort einlösen sollte. Natürlich könnte er jederzeit lügen, seine Mutter würde es nicht merken. Mehr als einmal hatte Beatrix ihm diese Möglichkeit vor Augen geführt. Und sie könnten ihr altes Leben wiederhaben.
    Wie aber sollte er mit seinem schlechten Gewissen umgehen, der Mutter den letzten Wunsch auf dem Sterbebett nicht erfüllt zu haben, fragte Johan? Es gab keinen anderen Weg. Er war überzeugt, er musste es tun. Und wenn es das Letzte in seinem Leben war. Was ihm allerdings fehlte und ihn fast krank machte, war der Ansatzpunkt, die Initialzündung für die Umsetzung, wie er sagte.
    Diese Initialzündung fand an dem Tag statt, als sein Dienstwagen, ein Mercedes, auf der Autobahn den Geist aufgab. Privat fuhr er selbstverständlich kein deutsches Fahrzeug.
    Die Zeit, in der er auf die Straßenwacht wartete, war die glücklichste, die er seit dem Ehrenwort

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