Spiel mir das Lied vom Wind
hinter sich her, das Treppenhaus hinauf, über den Laubengang zur Wohnungstür und schob sie ungeduldig in die Diele. Er drückte sie im Wohnzimmer auf das rustikale Sofa und machte den Fernseher an.
Der Bildschirm zeigte die sehr grobe Vergrößerung eines schmutzig-weißen Windrades. Johan musste das Foto wiederholt herangezoomt haben. Er steuerte mit einem zitternden Laserpointer auf die Nabe des Windrades, an der ein abgerissenes Seil und etwas höher noch ein silbern glitzernden Kreis hingen, in dem sich vier hakenförmige, silberne Stifte gegenüberlagen.
Johan klickte weiter.
Auf dem nächsten Foto ragte aus demselben hohen Gras ein spitzes, dunkles Dreieck in die Luft.
Johan klickte weiter.
Die nächste Vergrößerung zeigte das konische Endstück eines Betonmastes, der in einer hochgewachsenen Wiese mündete, aus deren Grashalmen sich ein heller Gegenstand aufrichtete, der wie ein Unterarm aussah, an seinem Ende befand sich eine Hand. Fünf Finger, verkrampft zu einer Kralle. Der Laserpointer wanderte von Finger zu Finger.
»Oh«, rief Beatrix, ehe sie ihre Hände vor den Mund schlug.
»Schade,« sagte Johan. »Er ist runtergefallen.«
»Wer?«
»Der Wind war zu stark.«
»Welcher Wind?«
»Schade.«
»Was redest du da?«
»Das Seil ist gerissen.«
»Das sehe ich auch. Johan, was ist das alles?«, fragte Beatrix und zeigte auf den Bildschirm.
»Windpark Himberg, 17. August, 16.15 Uhr«, antwortete er mechanisch.
»Da ist was passiert. Du musst eine Anzeige machen, hörst du?« Sie rüttelte an ihm.
Johan rührte sich nicht. Seine Stimme klang teilnahmslos, als er sagte: »Das haben Adrian und Willem auch gesagt.«
»Und wie recht sie haben.«
»Ich denke nicht daran.«
»Johan!« Beatrix Stimme klang plötzlich streng, wie die seiner Mutter.
»Ich habe neun Jahre auf diesen Augenblick gewartet.«
»Dann mache ich es.«
Johan fuhr zu ihr herum. »Das wirst du nicht tun. Du wirst mir nicht alles wieder kaputtmachen.«
»Wovon sprichst du eigentlich?
Johan klickte noch einmal zwischen den Fotos hin und her. Er kehrte zum ersten Foto zurück und seine Hände schlossen sich so fest um die Fernbedienung des Laserpointers, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Endlich habe ich sie«, murmelte er.
»Was meinst du damit? Wen hast du?«, fragte Beatrix und legte die Stirn in Falten. »Ich versteh kein Wort.«
Johan liefen Tränen über die eingefallen Wangen. »Wenn Mutter das sehen könnte«, schluchzte er.
»Ach, Johan«, rief Beatrix und rüttelte an ihm, »jetzt reicht es mir aber!«
10. Kapitel
Sonja Senger saß bei HK Roggenmeier im nicht-klimatisierten Büro. Das war kein Vergnügen.
Der Sommer war endlich in die Eifel gekommen, und er langte richtig zu. Es war schwül. Erlösende Gewitter waren erst für den Nachmittag angekündigt. Und ob sie ausgerechnet in Euskirchen niedergehen würden, war unsicher. Gewitter waren launisch.
Roggenmeier trug kurzärmelig, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sonja hatte einen Pappdeckel in der Hand, mit dem sie sich Luft zufächelte. Ihre Füße klebten in den Sandalen.
Roggenmeier bot nichts zu trinken an, weil er der Meinung war, je mehr er trank, desto mehr musste er schwitzen. Die Zeit wollte nicht vergehen. Es fielen beiden schwer, sich zu konzentrieren.
Sie philosophierten mit langen Pausen und ohne roten Faden über den Mann im Müll. Es war der 20. August, sein Todestag lag somit über drei Monate zurück. Die Ermittlungen stagnierten. Noch immer hatte sich kein Angehöriger oder Bekannter gemeldet.
Zwar hatte der Mann im Müll inzwischen einen richtigen Namen, Peter Reiners, aber auf eine Reaktion auf die Veröffentlichung seines Namens hatten sie bisher vergeblich gewartet.
Peter Reiners, inzwischen vom Kühlfach in die Tiefkühlung verlegt, wurde zurzeit bereits zum zweiten Mal in der Rechtsmedizin Bonn einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Vielleicht von einem anderen Arzt mit einem anderen Ergebnis, hoffte Sonja. Aber nicht mehr lange, und die Leiche würde seinen Eltern übergeben werden, sodass sie ihn nach allem Hin und Her schließlich würdig begraben konnten.
Roggenmeier bat Sonja, doch noch ein letztes Mal nach Wiesgen zu fahren und sich dort in der Nachbarschaft zu zeigen, damit der Ruf des KK Euskirchen nicht noch mehr leide, und damit er sich später nichts vorzuwerfen habe. Als er sie mit guten Ratschlägen verabschieden wollte, unterbrach ihn ein unüberhörbares
Pling
, das seinem PC entwich.
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