Spiel mir das Lied vom Wind
am Ohr. Schleunigst ließ er es in der Hosentasche verschwinden. Hatte er Verstärkung gerufen? Spätestens jetzt hätte Sonja die Blankenheimer Kollegen informieren und herbestellen müssen. Und das hätte sie auch getan, wenn nicht seit dem Anblick des Paketes ein Plan in ihrem Kopf Formen annahm, ein Plan, der keine Zeugen duldete. Sonja kontrollierte die schmale Straße. Links. Rechts. Sie waren allein. Von Wesseling keine Spur. Sie blickte zu den Windrädern. Und wieder zu van Kessel. Mit drei langen Schritten war sie bei ihrem Auto angekommen, holte ihre Waffe aus dem Handschuhfach und richtete sie auf van Kessel.
»Los! Gehen Sie los.«
Er musste vor ihr hergehen, die Hände im Nacken. Sie folgten einer Schleifspur im hohen Gras, die direkt zu dem still stehenden Windrad führte. Am Fuße des Betonpfeilers befahl sie ihm, stehen zu bleiben. Sonja blickte nach oben.
Über ihr, an der Nabe, baumelten weder das abgerissene Seil noch der silberne Glücksbringer, die auf den Fotos in der E-Mail an Roggenmeier deutlich zu erkennen gewesen waren. Zu ihren Füßen zeugte zwar eine größere Fläche niedergetretenes Gras von der Position einer Leiche und van Kessels Hantieren, aber die Leiche vom Foto war nicht mehr da. Das dunkle, spitze Dreieck, das auf dem dritten Foto zu sehen gewesen war, fehlte ebenfalls. Van Kessel hatte sorgfältig gearbeitet. Sie befahl ihm, umzukehren.
Vor dem Wohnwagen forderte Sonja ihn mit der Waffe in der Hand herumrudernd auf, das Paket herauszuholen. Widerwillig gehorchte er. Sie half ihm nicht, sah nur zu, wie er sich abmühte. Das Paket sackte nicht durch, als er es durch die schmale Eingangstür nach draußen zerrte. Leichenstarre, dachte Sonja.
Rigor mortis
.
Van Kessel schleifte seine Fracht bis vor ihre Füße und richtete sich wieder auf. Er rieb die Hände gegeneinander. Den Schweiß, der über seine Stirn lief, wischte er am Jackenärmel ab.
»Packen Sie aus!«
Van Kessel zog ein Taschenmesser aus der Hosentasche, klappte es auf und hielt die Klinge in Sonjas Richtung. Automatisch trat sie einen Schritt zurück und umfasste die Waffe in ihrer Hand fester. Sie hielt den Atem an und konnte ihn im nächsten Moment beruhigt entweichen lassen, van Kessel bückte sich nur und durchschnitt die Schnüre, als könnte er nichts anderes auf der Welt mit einem Taschenmesser machen.
Mit dem Fuß stieß van Kessel das Paket von sich, sodass die grüne Plane begann, sich aufzurollen. Er trat wieder und wieder dagegen, so lange bis der Inhalt endlich freilag. Der menschliche Körper lag auf dem Bauch. Van Kessel wälzte ihn umständlich auf den Rücken.
Aus fast zwei Metern Entfernung blickte Sonja auf ihn herab. Konnte das Krux sein?
Straff spannte sich die Haut, in einer Mischung aus Gelb und Blau, über hervortretende Gesichtsknochen. Auf Wangen und Nase glänzten Hautabschürfungen. Die Augen waren trüb und starr. Die Lippen trocken und gesprungen. Aus dem leicht geöffneten Mund quoll eine dicke Zungenspitze.
Was war aus seinen schönen, langen Haaren geworden? Sie waren raspelkurz geschnitten. Sonjas Blick wanderte an ihm herab. Er trug einen Anzug. Einen verschmierten, sandfarbenen Sommeranzug, der vermutlich von Boss war, wenn sie sich die Mühe machen würde und nach einem Etikett Ausschau hielt. Er trug ein Hemd, das einmal weiß gewesen war, und ein winziges Emblem auf der Brusttasche hatte, es war immer noch fast knitterfrei. Er trug einen zerrissenen Schlips und einen Gürtel, dessen Schnalle unübersehbar das PC von Pierre Cardin darstellte.
Ein Hosenbein war hochgerutscht. Um die Fessel zogen sich spiralförmige Rillen, die von einem Seil herstammen konnten. Sonja bückte sich, schob auch das andere Hosenbein hoch und die Manschetten des Hemdes, auch dort die gleichen Abdrücke. Sie legte den Hemdkragen frei. Der Hals war unversehrt. Das sah nach einer Kreuzigung aus.
Arme und Beine und Füße standen steif und verdreht vom Rumpf ab. Falls er vom Windrad auf den Boden gefallen war, hatte er sich sämtliche Knochen gebrochen. An einem Fuß fehlte der Stiefel. Die verflixten Krokostiefel, fluchte Sonja und wusste endlich auch, was das dunkle Dreieck auf einem der Fotos gewesen war. Sie räusperte sich. Der Moment des Mitleids war vorbei. Irgendein feiner, leider toter Geschäftsmann lag vor ihr, mit dem sie nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte.
»Wo sind der andere Stiefel, das Seil und das Amulett?«, fragte sie nur.
Van Kessel kletterte in den Wohnwagen und
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