Spiel mir das Lied vom Wind
ein paar Meter zurück auf einen befestigten Seitenstreifen. Als van Kessel an ihr vorüberfuhr, sah er geradeaus. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich, bevor er alles seiner Frau erzählen und herausfinden konnte, welcher seiner beiden Freunde ihn an die deutsche Polizei verraten hatte. Sonja glaubte ihm. Was er allerdings mit Krux vorgehabt hatte, war nicht erkennbar und momentan auch sekundär für Sonja Senger.
Das Lenkrad fest im Griff, die Lippen zusammengepresst, die Augen schmal und ohne nach links und rechts zu sehen, zockelte sie mit Krux im Kofferraum zunächst vom Windpark Himberg über Engelgau und Tondorf auf die Autobahnauffahrt Blankenheim, als gelte es eine heilige Fracht zu transportieren oder nicht durch überhöhte Geschwindigkeit aufzufallen. Auf der Autobahn passte sie sich dem üblichen Tempo an und holte alles aus dem Polo heraus, der fröhlich Richtung Bonn brauste, als wüsste er nichts von der schweren Last im Kofferraum.
»Ich fahre dich ans Ende der Welt«, drohte Sonja, aber sie fuhr Krux noch nicht einmal bis nach Bonn in die Rechtsmedizin. Und das lag nicht an den schwarzgelben Gewitterwolken, die sich über ihr türmten oder an den ersten dicken Regentropfen, die auf die Autoscheiben fielen.
11. Kapitel
Oberstaatsanwalt Wesseling saß in seinem Büro und sah aus dem Fenster. Während er um Regen betete, versuchte er die Plagegeister mit dem bloßen Auge zu erkennen. Es flog allerlei durch die Luft an einem Sommertag, wenn er darauf achtete. Allerlei, was ihm gefährlich werden konnte.
Seit diesem Frühjahr plagte ihn zum ersten Mal in seinem Leben eine Allergie, ihn, der davon ausgegangen war, unanfechtbar gesund zu sein. Eine Allergie, die es eigentlich im Sommer nicht geben durfte. Sie war vom Himmel gefallen. Eine sorten-, arten-und jahreszeitenübergreifende Allergie.
Begonnen hatte es mit den Birken und Buchen, die ihn quälten. Inzwischen waren die Wiesenkräuter dran. Er schluckte Tropfen und Tabletten. Nichts half. Nichts außer Regen, Regen, Regen. Wesseling wünschte sich einen kalten, nassen, grauen Sommer. Er zog ein Papiertaschentuch aus der Schublade und putzte sich die wunde Nase. Auch seine Augen brannten: Nicht nur von der Allergie. Er war übermüdet. Zwei Stunden Schlaf waren einfach zu wenig.
Kurz vor Mitternacht hatte er letzte Nacht einen Notruf aus Wolfgarten erhalten, der mehr als kryptisch war. Seine Frau Hilde war im wehenden Nachthemd auf Zehenspitzen ans Telefon getippelt und hatte den Hörer wortlos an sein Bett gebracht, wo er den letzten Zeilen eines Kriminalromans entgegenlas.
Münsters Fall
von Hakan Nesser. Er war ungehalten, er wollte nicht telefonieren, er wollte wissen, wer der Mörder des ekligen alten Waldemar Leverkuhn war. Leverkuhns Frau hatte sich vor ihren Sohn gestellt, aber die war es offensichtlich auch nicht. Es gab da eine Tochter … Wesseling fand das Buch hochspannend, jedenfalls bis zu dem Moment, in dem er wusste, wer am anderen Ende der Telefonleitung war.
Hauptkommissarin Sonja Senger. Sie bat um Hilfe.
Wesseling fuhr aus den Kissen. Das war noch nie passiert. Wozu, warum, weswegen, das verstand er nicht, weil sie nach ein paar mühsam hervorgestoßenen Worten bereits um Entschuldigung bat und wieder auflegte. Aber allein die Tatsache, dass sie ihn angerufen hatte, von zu Hause und zu dieser Stunde, machte die Sache eindeutig und dringend. Danach war es ihm egal, wer Waldemar Leverkuhn umgebracht hatte.
Er lag lange wach, wälzte sich von einer Seite auf die andere, fixierte seinen Radiowecker und die verstreichende Zeit, drehte sich schließlich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit des Schlafzimmers.
Seit wie vielen Jahren behielt er die tapfere, unerbittliche, vom Schicksal gebeutelte und manchmal recht anstrengende Hauptkommissarin schon im Auge? Es war eine Mischung aus Kontrolle und Fürsorge, die ihn dazu bewegte. Mehr nicht. Auch Sympathie. Mehr aber nicht. Welches der Gefühle zurzeit vorherrschte, vermochte er nicht zu sagen. Er hatte Sonja in jeder Weise zu unterstützen versucht. Erst letztes Jahr hatte er sie regelrecht protegiert und ihr eine neue Stelle verschafft. Damit war er weit über das hinausgegangen, was er unter normalen Umständen bereit war, in andere Menschen zu investieren. Er war davon ausgegangen, dass sie endlich festen Boden unter den Füßen hatte.
Aber nein. Wieder war sie vom Wege abgekommen. Vermutlich war daran die Einsamkeit Schuld. Wesseling war ein erfahrener
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