Spiel mir das Lied vom Wind
war. Wie heute.
Jessica Polzin brauchte Zeit, um den Türdrücker zu betätigen. Brummer und Sonja betrachteten währenddessen die anderen Namensschilder neben der Haustür und nickten sich schweigend zu. Wenn sie mit Jessica fertig waren, würden sie die Nachbarn befragen, ganz selbstständig und ohne oberstaatsanwaltlichen Auftrag, sie waren keine Anfänger mehr. Es handelte sich um ein Vierparteienhaus.
Jessica Polzin stand im ersten Stock links in der Tür, mit Jeans und weißer Bluse und Clogs an den Füßen. Ihre dunklen Haare waren zu einem Zopf im Nacken gebunden. Sie war geschminkt, nicht übermäßig, eine adrette, junge Frau, Mitte zwanzig, die jedoch ein wenig abgehetzt wirkte.
Sie ließ die Kommissare eintreten und bat sie zur Sitzecke in ihrer Einraumwohnung. Die Balkontür stand offen. Ein ungemachtes, französisches Bett versteckte sich hinter einem Paravent aus Rattan. Die Küchenzeile befand sich in einer Nische unter einem Fenster. In der kleinen Diele hatte Sonja eine Tür gesehen, unter der ein Lichtstrahl hervortrat. Von dort hatte sie leises Plätschern gehört. Jessica war nicht allein zu Hause.
Brummer und Sonja versanken fast in der Couch. Jessica setzte sich ihnen gegenüber auf den Rand eines Sessels und begann unaufgefordert zu reden: »Peter und ich hatten an dem Tag Streit, weil …«
»Wann?«, unterbrach Brummer sie.
»Am 30. April, am Tag, bevor er …«
»Um wie viel Uhr?«
Jessica blickte zur Zimmerdecke und überlegte. »Das muss gegen 19 Uhr gewesen sein. Und als er sich ein paar Tage nicht meldete, dachte ich, er wäre noch beleidigt. Aber als ich nach ein paar Wochen nichts von ihm gehört hatte, fand ich das komisch. Ich habe versucht, ihn anzurufen und zu besuchen, aber ich konnte ihn nie erreichen.«
»Worum ging es bei ihrem Streit?«, fragte Brummer.
»Er wollte mit seinen Freunden eine Sauftour machen, ich wollte das nicht. Er ist aber trotzdem gegangen.«
»So ein Böser. Aber gesoffen hat er nicht, da können wir Sie beruhigen. Er war fast nüchtern, als er starb. War er ein Spieler?«
Jessica kräuselte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Nur weil er neben einer Spielhalle gefunden wurde, muss er kein Spieler sein.«
»Nein, das stimmt. Er hat vielleicht in der Nacht einen Maibaum gesetzt und kam dabei zu Tode«, meinte Brummer arglos und kaute an seinem Stift. »Er hatte nämlich etwas von diesem bunten Flatterband unter den Fingernägeln.«
»Nein, das kann auch nicht sein, ich habe dieses Jahr gar keinen bekommen«, beschwerte sich Jessica.
»Aber voriges Jahr noch?«
Sie nickte.
Brummer und Sonja tauschten Blicke und zogen die Augenbrauen hoch. Brummers Brauen waren gerade schwarze Linien mit einem rechtwinkligen Haken über der Nase. Das war Sonja noch nie aufgefallen.
Sie horchte in Richtung Diele. Da bemühte sich jemand schnell und leise zu sein. Eine Tür, Schritte, ein Rascheln, ein Klimpern, die Haustür fiel ins Schloss. Alles gedämpft, aber nicht lautlos.
»Wer war das?«, fragte sie.
Jessica blickte erstaunt zur Diele und sagte: »Ruben war das. Ruben Graf. Er muss zur Arbeit, er …«
»Ein neuer Mann in Ihrem Leben?«, fragte Brummer.
Jessica lächelte verlegen. »Na ja, ich weiß nicht.«
»Heute haben wir den …«, Brummer blickte auf seine Uhr, »den 25. August. Am 1. Mai wurde ihr Freund umgebracht.« Er zählte mit den Fingern, ein, zwei, drei. »Erst vor vier Monaten. Sie haben nicht lange gefackelt.«
»Ich kannte Ruben vorher schon«, erklärte Jessica und drehte an ihren Fingern.
„Ruben und wie weiter?«
»Ruben Graf. Er hat mich nur getröstet, als ich gestern erfuhr, dass Peter …«
»Wie rührend«, sagte Brummer und fing sich einen Seitenhieb von Sonja, die die Initiative ergriff.
»Wie alt sind Sie?«
»Vierundzwanzig.«
»Peter Reiners war neununddreißig«, sagte Sonja.
»Na und?«
»Die berühmten fünfzehn Jahre«, grinste Brummer.
Sonja lag eine Bemerkung auf der Zunge. Aber die Frage, die sie stellte, ging in eine ganz andere Richtung: »Wo und wann haben Sie ihn kennen gelernt?«
»Vor zwei Jahren auf dem Feuerwehrfest.«
»Er war ledig, oder?«, fragte Sonja.
»Natürlich!«, fuhr Jessica sie an. »Meine Sie, ich wäre eine, die …«
Sonja winkte ab. »Ich meine gar nichts. Wohnt dieser Ruben in Ihrer Nähe?«
Jessica nickte. »Zwei Straßen weiter.« Als die Kommissare sie fragend ansahen, setzte sie hinzu: »In der Reifferscheider Straße. Wir kennen uns schon seit der
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