Spiel mir das Lied vom Wind
blickte dabei zufällig unter dem Saum der Kittelschürze hindurch und entdeckte etwas. Etwas Unmögliches. Etwas, was dort nicht sein sollte.
Denn im hinteren Teil des Zimmers standen nur, unsichtbar vom vorderen Zimmerteil aus, das eheliche Bett mit den beiden Nachttischen und in der Ecke ein Stuhl für Erwin, auf den er sich gern beim Aus-und Anziehen setzte, weil ihm die Matratze zu weich war.
Helene blieb in dieser Stellung, bis sie wusste, was es war. Es war der Arm einer Deckenlampe. Die Deckenlampe musste abgehängt und auf dem Boden abgelegt worden sein, genau dort, wo die beiden Zimmerteile aufeinanderstießen.
Helene richtete sich auf und drehte sich auf ihren Gesundheitssandalen um 180 Grad.
Die messingfarbene, sechsflammige Milchglas-Schalen-Lampe ihrer Mutter lag vor ihr. Das weiße Kabel hing ausgefranst und lose zwischen den Lampenarmen. Nur Erwin konnte das gewesen sein, da das Ehepaar Dederich ganz allein lebte. Aber warum?
Helenes Augen suchten den Boden ab. Und ihr Blick fiel auf eine weitere Ungewöhnlichkeit. Erwins Stuhl lag völlig unmotiviert am Bettende, anstatt an seinem Stammplatz in der Ecke hinter dem Nachttisch zu stehen. Er war umgeworfen. Warum das?
Als sie sich bückte, um den Stuhl aufzuheben, stieß sie mit dem Rücken gegen etwas Weiches, Nachgebendes. Langsam drehte sie sich um. Und es schien ihr, als habe eine höhere, fürsorgliche Macht ihren Blick bisher gelenkt, um sie so lange wie möglich vor dem Schrecklichen zu bewahren.
Die Füße in den Schuhen reichten Helene bis zur Brust, es folgten Beine, Hintern, Bauch, Hände, Arme, Brust, Hals und Kopf. Statt der Deckenlampe hing am weißen Haken, der aus der Decke kam, Erwin Dederich, der vor knapp dreißig Jahren beim Feuerwehrfest um ihre Hand gebeten hatte.
Er trug seine blaue Arbeitsmütze und seine blaue Latzhose, darunter ein weißes geripptes Unterhemd, so wie immer, so wie heute Morgen, als er die Küche verließ, um in die Scheune zu gehen.
Nichts hatte er sich anmerken lassen. Ihres Wissens nach konnte er auch keinen Grund gehabt haben, sich zu erhängen. Heute früh hatte er nur gesagt: »Ich geh dann mal.« Auch das tat er jeden Morgen. Alles war wie immer gewesen.
Aber nun hing sein Kinn auf der Brust, sein Mund war leicht geöffnet, seine Zunge quoll heraus. Seine Augen waren weit aufgerissen, starrten ohne zu sehen. Seine Gesichtsfarbe war nicht mehr sonnengebräunt, sondern dunkelblauviolett. Helene schob Erwins Stuhl unters Fenster, stellte ihn auf seine vier Beine, entstaubte die Sitzfläche, ließ sich darauf fallen, legte die Hände in den Schoß und dachte nach.
Sie empfand weniger Trauer, als vielmehr eine große Enttäuschung darüber, dass er sie nicht in seinen Plan eingeweiht hatte. Das war ein glatter Vertrauensbruch. Helene hatte keinen blassen Schimmer, warum er sich und ihr das da angetan hatte. Sie verstand es nicht. Bis auf die Tatsache, dass sie keine Kinder bekommen konnten, war ihre Ehe mit Erwin zu Helenes Zufriedenheit verlaufen. Erwins Mutter, eine Witwe seit Ewigkeiten, hatte ihnen den Gefallen erwiesen, bald nach der Hochzeit zu sterben, sodass sie Helene und Erwin nicht länger maßregeln konnte. Das Paar lebte bescheiden, aber nicht schlecht auf dem geerbten Hof. Sie konnten sogar jedes Jahr in Urlaub fahren.
Aber vor einem Jahr erfuhr Helene von ihrem Zahnarzt, dass ihnen eine hohe Ausgabe ins Haus stand. Sie brauchte dringend neue Zähne. Ihre alten waren nicht nur schief und krumm seit ihrer Jugend, sondern mit den Jahren auch morsch und faul und gelb und weniger geworden. Ständig tat ihr irgendeines dieser Ungetüme weh. Oben rechts fehlte einer, das war nicht zu übersehen, wenn sie lächelte. Sie konnte schon lange nur noch auf der linken Seite kauen. Der Zahnarzt hatte ihr empfohlen, wenigstens im Oberkiefer reinen Tisch zu machen, alle Zähne ziehen und sich ein wunderschönes, weißes Gebiss machen zu lassen. Handikap an der Sache war, der Spaß kostete mehr als 5000 Euro, laut Kostenvoranschlag, da war der Krankenkassenbeitrag schon abgezogen.
Sie hätten eine Ratenzahlung vereinbaren können, aber Erwin war immer gegen Kredite gewesen. Seit einem guten Jahr sparten Erwin und Helene nun schon für die neuen Zähne. 3000 Euro konnten es schon sein, schätzte Helene, Erwin hatte neulich erst gesagt, dass sie es Ende des Jahres machen lassen könne. Für Helene wäre das da schönste Weihnachtsgeschenk gewesen.
Aus und vorbei. Helene blickte hoch zu Erwin unter der
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