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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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eine besondere Bewandtnis. Verstehen Sie doch, es ist das letzte Geschenk. Sie sehen doch, wie wichtig es ihr ist.«
    Dr. Widdau sah auf die Uhr. Die Liste der Patienten, die er heute noch besuchen musste, war lang. Er setzte sich auf eine Treppenstufe und füllte den Totenschein aus und setzte sich wieder in sein Auto. Er wünschte, er hätte mehr Zeit gehabt, um den Toten näher zu untersuchen. Aber die Patienten, die noch lebten, gingen vor.
    Unfalltod, Genickbruch durch Treppensturz, las Helene später und nickte. »So ist es gut.«
    Zwei Bestatter kamen, sprachen ihr Beileid aus und zogen Erwin aus. Während Helene seine Arbeitskleidung sorgfältig faltete, zogen sie ihm ein weißes Hemd mit offenem Rücken an und legten Erwin in einen Leichensack. Sie trugen ihn in ihren Wagen, kamen gemessenen Schrittes zurück und besprachen mit Helene das Datum und die Zeremonie der Beerdigung. Sie wollten wissen, ob Erwin eine Lebensversicherung oder eine Sterbeversicherung oder eine Unfallversicherung hatte. Helene verneinte. Dafür war nie Geld da gewesen.
    Helene wollte keine Trauerkarten drucken lassen, sondern nur eine kleine Anzeige im Wochenspiegel schalten. Erwins Tod würde sich von ganz allein herumsprechen. Aber ein Leichenschmaus, der musste sein.
    Ehe die Bestatter davonfuhren, boten sie Helene an, sie könne Erwin jederzeit noch einmal sehen und mit ihm allein sein, wenn sie dies wünsche. Helene spürte kein Bedürfnis dazu. Aber das sagte sie ihnen nicht.
    Später machte sich auch Matthias auf den Heimweg, obwohl er seiner Schwägerin angeboten hatte, die erste Nacht bei ihr zu wachen. Helene hatte abgelehnt. Wie tapfer sie war. Er hatte ihr versprochen, Ulrich alles zu berichten, damit sie es nicht ein weiteres Mal tun musste. Das war das Einzige, was er im Augenblick für sie tun konnte, hatte Helene beteuert.
    Allein im Haus, zog Helene sich um, ein Kostüm statt der Kittelschürze, und bestellte ein Taxi. Sie war viel zu aufgeregt, um den Weg zur Bushaltestelle zu Fuß zu gehen.
    Vor der Kreissparkasse in Gemünd ließ sie sich absetzen. Sie war ewig nicht hier gewesen, Erwin hatte sie mit Gelddingen nicht belasten wollen. Die Rollen in ihrer Ehe waren klassisch gewesen.
    Herr Stiepelmann, wie auf dem kleinen, schwarzen Schild an der Kasse stand, wollte die Kontonummer wissen, als Helene ihm mitteilte, dass sie Geld abheben müsse. Helene kannte sie nicht. Aber Erwin Dederich und sein Konto, die waren Herrn Stiepelmann wohl bekannt.
    »Sie haben keine Unterschriftsvollmacht«, bedauerte er.
    »Was heißt das?«
    »Nur Ihr Mann kann über das Konto verfügen.«
    »Mein Mann ist tot.«
    »Oh!«, machte Herr Stiepelmann verlegen. »Mein Beileid. Wie …?«
    Helene schnitt ihm das Wort ab. »Ein Unfall.«
    »Oh!«, wiederholte Herr Stiepelmann. »Auf dem Feld?«
    »Nein«, erklärte Helene ungeduldig. »Auf der Treppe.«
    »Wie schrecklich!«
    »Ja. Und jetzt?«
    »Haben Sie einen Erbschein?«
    »Was ist das nun wieder?«
    Er bedauerte, aber sie könne erst über das Geld auf dem Konto ihres verstorbenen Ehemannes verfügen, wenn sie den Erbschein vorweisen könne, meinte Herr Stiepelmann.
    »Ich allein bin die Erbin. Wir haben leider keine Kinder. Warum quälen Sie mich in der Stunde seines Todes?« Helene lief eine Träne über die Wange. Sie wandte sich ab und ging müden Schrittes auf den Ausgang zu.
    Während des Gesprächs hatte Herr Stiepelmann unermüdlich auf die Tastatur seines Computers gehackt und mit großen, erstaunten Augen verfolgt, was sich auf dem Monitor zeigte.
    »Frau Dederich!«, rief er Helene nach.
    »Ja?«
    »Es macht nichts, dass Sie keinen Erbschein haben.«
    »Nein?«, Helene gelang ein Lächeln. »Das ist wirklich zu nett von Ihnen. Ich bräuchte nämlich das Geld für seine Beerdigung. Erwin soll ein schönes Grab bekommen und eine schöne Feier.«
    Herr Stiepelmann wand sich vor Verlegenheit. »Was ich Ihnen nun sagen muss, bedaure ich wirklich. Ich würde mich an Ihrer Stelle mit dem Erbschein nicht beeilen. Das Konto Ihres Ehemannes, so viel darf ich wohl verraten, ist leer. Und Sie haben doch bestimmt kein großes Interesse, so schnell wie möglich einen Berg Schulden zu erben?«
    »Einen Berg Schulden?«
    »Er hat vor circa zwei Monaten, am 24. Juni, alles abgehoben, was auf dem Konto war, und zusätzlich einen Kredit aufgenommen.«
    »Wie viel?«, fragte Helene wie im Traum.
    »Auf dem Konto waren 2.750 Euro. Zusätzlich aufgenommen hat er 7.250 Euro. Insgesamt haben wir

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