Spiel mir das Lied vom Wind
trank einen großen Schluck Leitungswasser. Sie suchte ihre Brille und setzte sie auf. Sie hielt das Foto nah, sie hielt es fern. Sie hielt es unter die Deckenlampe und gegen das Abendlicht, das durchs Fenster fiel. Es half alles nichts. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: Peter Reiners sah Krux ähnlich. Die gleiche Frisur, dieselbe Nase, dasselbe Kinn. Oder?
Vielleicht auch nur eine rein subjektive Annahme, eine Sinnestäuschung, die nicht gerade dafür sprach, dass sie über Krux hinweggekommen war. Brummer war die Ähnlichkeit nicht aufgefallen. Krux war also immer noch in ihrem Kopf, obwohl sie alles dafür getan hatte, ihn von dort zu verbannen.
Sonja zog die Brille wieder ab und sah hinaus. Ein friedlicher Sommerabend senkte sich hinter den Fenstern über die Felder. Nur langsam veränderten sich die Farben, vom Rotgelb des Tages zum Blaugrau der Nacht.
»Je nun, Herr Oberstaatsanwalt«, murmelte Sonja.
Er rief an, als sie es sich mit West auf dem Schoß bequem im Ohrensessel gemacht hatte und das Unwetter beobachtete, das sich unerwartet über Flora und Fauna hermachte. Es wurde dunkel, als sei es Nacht. Es stürmte, als fegte der Herbst bereits übers Land. Die ersten Blätter segelten zu Boden. Regenwasser prasselte aufs Dach und gegen die kleinen Fensterscheiben, dass sie kaum verstehen konnte, was ihr Handy preisgab.
»Wirklich?«, fragte sie nach.
Wesseling hatte ihren und Brummers Tagesrapport gelesen. Er schien mit seinen Mitarbeitern zufrieden. Jedenfalls beanstandete er nur die Tatsache, dass ihm kein Foto von Peter Reiners vorlag. Sonja versprach, es nachzureichen. Sie nannte keinen Termin dafür, und sie entschuldigte sich auch nicht.
»Dr. Gehring hat sich übrigens nach der genetischen und toxikologischen Untersuchung heute Morgen bei Kruxens Todeszeitpunkt festgelegt«, verkündete Wesseling, machte eine Pause und ließ seine Worte ihre Wirkung tun.
Sonjas Hand, die bisher West gekrault hatte, hielt inne.
»Sodass Neugebauer und seine Kollegen informiert waren, als sie nach Köln fuhren.« Wieder eine Pause. »Vor circa zehn Tagen, sagt er, um den 15. August herum. Plus minus zwei Tage.«
Das kam hin, dachte Sonja und streichelte West weiter, der sie bereits ungeduldig angestupst hatte. Sie hatte Krux am 20. August von van Kessel übernommen. Der hatte das Foto am 17. August gemacht. Da lag Krux schon am Boden. Das Seil musste demzufolge zwischen dem 13. und 17. August gerissen sein. Irgendjemand müsste sich mal nach den Windverhältnissen in dieser Zeit erkundigen. Nicht sie. Sie war von dem Fall abgezogen worden.
»Er erfreute sich übrigens bester Gesundheit, bevor er ermordet wurde.«
»Das ist ja beruhigend«, meinte Sonja.
»Und er war bereits tot, als er ans Windrad gehängt wurde«, erklärte Wesseling.
»Ach ja?«, fragte Sonja irritiert.
»Die toxikologische Untersuchung hat als Todesursache eine Kohlenmonoxydvergiftung festgestellt. Er ist erstickt. Vorher.« Täuschte sie sich, oder lag da Genugtuung in seiner Stimme? »Die Knochenbrüche, Stauchungen, Abschürfungen sind erst nach seinem Tod entstanden. Aber er konnte noch nicht lange tot gewesen sein, denn wenn die Leichenstarre erst einmal vorbei ist, sind sie wie Gummi. Auch die Abdrücke der Seile an Hand-und Fußgelenken sprechen dafür, er kann auch nicht lange gehangen haben, denn es gibt keine Totenflecken in den abhängigen Körperteilen. Da Hals und Genick unversehrt sind, geht der Rechtsmediziner von einer Art Kreuzigung an den Windradflügeln aus.«
Darauf war sie auch schon gekommen, als van Kessel Krux aus der Plane gewickelt hatte. Auf eine misslungene Kreuzigung.
»Bist du okay?«, fragte Wesseling. »Ich weiß, das sind schlimme Nachrichten für dich. Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«
»Und was macht der 1. FC Köln?«, lenkte Sonja ab.
»Wer?«
»Fußball«, gab Sonja das Stichwort. Selbst ein Mann wie Wesseling sollte das wissen. Alle Männer wissen das.
Wesseling wusste es. »Am Samstag hat Köln gegen Frankfurt 0:0 gespielt. Der FC steht jetzt auf Platz 17. Podolski hat immer noch kein Tor geschossen. Der Präsident mahnt zur Ruhe. Der neue Trainer …«
»Echt?«, fragte Sonja, überrascht von seinem Fachwissen.
»Zvonimir Soldo sagt: Als Trainer hast du eigentlich keine Zeit. Aber ...«
»Apropos Zeit«, unterbrach Sonja den Bericht. »Die haben wir auch nicht.«
»Je nun«, machte Wesseling und kam auf den Anlass seines Anrufs zurück. Neugebauer und Brummer
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