Spiel mir das Lied vom Wind
Zimmerdecke. Statt Zähne galt es eine Beerdigung zu finanzieren. Die 3.000 Euro reichten hoffentlich dafür.
Um Erwin abzuhängen, brauchte sie Hilfe. Erwin war zwar klein, aber stämmig. Helene überlegte, seine Brüder Matthias und Ulrich anzurufen, als ihr einfiel, dass Matthias heute nach Schleiden gefahren war, um sich bei einem Autohändler ein gebrauchtes Auto anzusehen, und Ulrich, der Ältere, auf einem Seminar in Koblenz war.
Welch furchtbare Vorstellung, ihnen erklären zu müssen, dass ihr Bruder Erwin nicht einfach auf natürliche Weise verstorben war, sondern sich umgebracht hatte. Nicht nur ihnen, auch den Nachbarn, seinen Stammtischbrüdern, jedem, den er und den sie kannte. Sie alle würden Fragen stellen, vielleicht denken, dass sie, Helene, Erwin einen Grund dazu gegeben habe, sie würden tuscheln, rätseln, hinter ihrem Rücken. Wie stand es um den Hof?
Nein, sagte Helene laut und stand mit einem Ruck von Erwins Stuhl auf.
Sie stieg in den Keller hinab, holte die Stehleiter, in der Küche besorgte sie sich ein Messer aus der Schublade. Sie prüfte am Daumen die Schärfe der Klinge. Sie kletterte auf die Leiter und schnitt Erwin ab, der mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufkam und mit einem Fuß gegen die Deckenlampe trat. Eine der Milchglas-Schalen zersprang. Die schöne Lampe, dachte Helene. Aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.
Helene löste vorsichtig die Schlinge um Erwins Hals, holte aus ihrem Schrank ein Halstuch und band es Erwin mit einer lockeren Schleife um, damit der tiefe, hässliche Abdruck, den das Seil hinterlassen hatte, nicht mehr zu sehen war. Dieses himmelblaue Halstuch hatte Erwin ihr vor vier Jahren zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geschenkt. Er hatte es immer gern gesehen, wenn sie es trug. Es hatte die Farben ihrer Augen, wie er sagte. Nur ungern trennte sich Helene davon, erst die Zähne, dann die Lampe und nun das Halstuch, dachte sie. Das Leben war ungerecht. Erwin hat sich einfach vom Acker gemacht, als ob dies eine Lösung sei. Nun stand sie ganz allein da.
Der Zorn darüber machte sie stark. Sie schaffte es, Erwin an den Beinen über die Holzdielen bis zur Zimmertür, über den kleinen Flur bis zur Treppe zu zerren und ihm einen kräftigen Schubs zu geben. Er blieb auf der zweiten Stufe hängen, sie musste nachtreten, was sie zögernd und widerwillig tat, einmal, zweimal, bis er richtig in Schwung kam. Die Treppe war lang und gerade und endete mit einem kleinen Podest vor einer Wand. Erwins schlaffer Körper schlug an jeder Stufe auf, knallte schließlich unten gegen die Wand und blieb unnatürlich verdreht liegen.
Als Helene Schritte hörte, begann sie zu schreien. Sie schrie um Hilfe, um ihr Leben, um ihre Ehre. Für alle Fälle.
Es war Matthias, der in diesem Augenblick das Haus betrat, um Bruder und Schwägerin von seiner Autobesichtigung in Schleiden zu berichten. Er ließ die Tüte mit den Prospekten fallen, starrte auf Erwin am Boden, sah die Stufen hoch und erblickte Helene auf der obersten Treppenstufe. Sie stürzte sich hinab, direkt in die Arme ihres Schwagers.
»Helene!«
»Matthias!«
Endlich konnte sie weinen. Als sie gar nicht wieder aufhören wollte, schob Matthias sie beiseite.
»Warte! Vielleicht lebt er ja noch!«, sagte er und bückte sich zu Erwin, dessen Augen weit geöffnet einen Punkt fixierten, den es nicht gab. Er legte einen Finger auf seine Schläfe, einen auf sein Handgelenk. Die andere Hand schob er unter sein Unterhemd und suchte seinen Herzschlag. Dann schloss er Erwins Augen und richtete sich wieder auf. »Er ist tot.«
Helene nickte und weinte weiter. Matthias nahm sie in die Arme und strich ihr tröstend über den Rücken. Zwischen zwei Schluchzern fragte er, wie das passieren konnte.
»Ach, Matthias, wir haben uns oben unterhalten. Er lief rückwärts vor mir her. Er hat die oberste Treppenstufe übersehen und …
»Aber wieso trägt er dein Halstuch?«
»Aus Spaß. Ich hatte es zuerst an, er zog es mir aus und band es sich um. Ach, Matthias, wir haben doch nur Spaß gemacht!« Weinkrämpfe schüttelten sie, ihre Stimme brach.
»Ich rufe Dr. Widdau«, entschied Matthias.
Als Dr. Widdau aus Schleiden, Hausarzt der Dederichs, Erwin Dederich das Halstuch abnehmen wollte, um ihn zu untersuchen, ging Helene dazwischen.
»Das Halstuch bleibt an!«
Dr. Widdau zuckte zusammen. »Ich binde es ihm später wieder um.«
»Nein!«, schrie Helene hysterisch auf.
Matthias stand seiner Schwester bei. »Bitte. Es hat
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