Spiel ohne Regeln (German Edition)
Spiegelbild. Sie war so bleich, so dünn, so klein. Diese riesigen Augen in diesem winzigen Gesicht. Sie existierte kaum neben Marinas imposanter blonder Masse. Sie fuhren langsam nach oben. Die bewegliche Kammer kam ruckelnd zum Stehen.
Die Türen öffneten sich seufzend in eine neue Welt. Die Wände waren in einem hellen Grün gestrichen. Alles glitzerte. Es blendete sie. Lichter blinkten und funkelten an Wänden voll glänzender Apparate.
Marina versetzte ihr einen Stoß zwischen die Schulterblätter, sodass sie in das Zimmer stolperte. Es war mit Menschen gefüllt, die wie sie grün gekleidet waren. Sie trugen Kappen auf dem Kopf und Masken vor dem Mund. Nur die Augen waren sichtbar. So viele Augen, alle auf sie gerichtet. Sie wich vor ihren durchdringenden Blicken zum Fahrstuhl zurück, doch Marina schubste sie wieder nach vorn.
Ein sehr großer, maskierter Geist trat auf sie zu und musterte kalt ihr Gesicht. »Bereitet sie vor! Zügig. Wir liegen bereits hinter dem Zeitplan zurück.«
Becca zählte ihre Atemzüge und versuchte, langsam, tief und gleichmäßig zu atmen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Bis zehn. Dann zählte sie stockend rückwärts. Wenn sie sich weiter auf das Zählen konzentrierte, würde die Nacht irgendwann vorbei sein. Sie war endlich. Die Welt drehte sich, katapultierte sie durch das All in eine unbekannte Zukunft. Der Tag würde anbrechen. Jemand würde kommen, und man würde ihr sagen, was dort draußen passiert war.
Sie würde nicht durchdrehen, nicht zusammenbrechen. Sie fürchtete sich weder vor der Dunkelheit noch vor den Kreaturen, die um sie herum über den Betonboden huschten und wuselten. Ratten, Fledermäuse, Schaben – na, und wenn schon! Sie war erwachsen und würde das durchstehen. Sie hatte keine Angst. Nein, nein und noch mal nein.
Sie fragte sich, ob wohl schon drei Stunden vergangen waren. Es hätten auch sechs sein können oder erst ein paar Minuten. Vielleicht war Nick schon bei Zhoglo. Vielleicht war es längst vorbei. Vielleicht waren Carrie und Josh … nein. Daran durfte sie nicht denken. Sonst würde sie anfangen zu schreien.
Eins. Zwei. Drei. Vier …
Ihr stockte das Herz, als sie die Geräusche eines Autos vor dem Gebäude hörte. Nick? Es musste Nick sein. Er war der Einzige auf der Welt, der wusste, wo sie war, zumindest bis morgen, wenn das FedEx-Päckchen ausgeliefert werden würde. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt. Vielleicht hatte er begriffen, dass sie nicht getan haben konnte, was er ihr vorwarf.
Ja. Klar. Die zynische, erwachsene Realistin tief in ihr lachte schallend.
Sie musste sich einen härteren Panzer zulegen. Sie wusste, dass das Leben gefährlich war. Und sich um andere Menschen zu sorgen, war das Gefährlichste überhaupt. Sie war sich dieser brutalen Tatsache seit ihrem zwölften Lebensjahr bewusst, und keine ihrer anschließenden Erfahrungen hatte sie eines Besseren belehrt. Trotzdem hatte sie sich nie gestattet, darüber nachzudenken, wie bodenlos dieser schwarze Abgrund tatsächlich war, sondern sie hatte immer dafür gesorgt, dass sie beschäftigt blieb.
Der Boden dieses Abgrundes war letztlich der Tod. Der Tod würde dem Leiden ein Ende setzen. Der Tod würde ihren Sturz beenden.
Sie hatte nie verstanden, was ihrer Mutter durch den Kopf gegangen sein musste, als sie auf ihrem Bett gesessen und die Pillenflasche angestarrt hatte.
Jetzt verstand sie es. Und zum ersten Mal konnte sie ihrer Mom fast vergeben, dass sie sie allein gelassen hatte. Fast.
Es ertönte ein ratterndes Ächzen, als das schwere Tor in seinen rostigen Schienen aufglitt. Das Scheinwerferlicht des Wagens, der brummend davorstand, fiel herein. Frische Luft fuhr ihr durch die Haare und strich über den kalten Schweißfilm auf ihrem Gesicht.
Schritte. Becca strengte die Augen an, um zu erkennen, wer es war, aber das große Regal versperrte ihr die Sicht. Sie konnte nicht die gesamte Silhouette erkennen, sondern nur unzusammenhängende Fragmente, verwischt und überbelichtet von den Scheinwerfern dahinter.
Die Schritte kamen näher.
Sie inhalierte tief und zwang sich mit dünner, unsicherer Stimme zu rufen: »Nick? Bist du das?«
Eine Taschenlampe flammte auf, tastete über ihren Körper und strahlte ihr direkt ins Gesicht, blendete sie noch stärker als zuvor die Scheinwerfer.
Es war nicht Nick. Nick würde so etwas niemals tun. Selbst im Zorn würde er sie nicht absichtlich in Angst versetzen.
Der Inhaber der Taschenlampe richtete den Strahl von
Weitere Kostenlose Bücher