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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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Boulevards. Ein alter Mann rammte mir seine Schubkarre ans Bein und fuhr dann einfach weiter.
    »Ist das da nicht der Junge?«, schrie Chip.
    »Wo?«
    »Da drüben, im Gras unter dem Baum. Da.«
    Ich schaute hin. »Nein«, sagte ich, »das ist er nicht. Komm, gehen wir weiter.«
    Aber Chip drängte sich bereits vorwärts durchs Gewühl.
    »Chip«, rief ich. »Hey, Chip!«
    Er kümmerte sich nicht darum.
    Fluchend stapfte ich hinter ihm her.
    Aber es war wirklich Hiero. Er saß da mit tief hängendem Kopf, die Hände im Schoß. Vor ihm, mit dem Rücken zur Straße, kauerte Delilah. Seine Kleider hingen lose an ihm herunter, als hätte er sie von irgendeiner Wäscheleine gestohlen; so wie er da saß, eingehüllt in all den viel zu weiten Stoff, wirkte er geradezu geschrumpft. Unter dem Baum saßen noch andere Leute, Familien, lauter trostlose Gestalten. Das gelbe Licht beschien Delilahs Wangen. Ihr Gesicht sah kantig und hart aus.
    »Hi«, sagte Chip, »genießt ihr ein bisschen die schöne Aussicht?«
    »Ihr habt meine Nachricht gelesen.« Ihre Stimme klang erschöpft.
    Chip kniff seine kleinen Augen zusammen. »Ja. Und Sid hat sich ganz besonders gefreut, wieder mal von dir zu hören.« Seine Austernlippen lächelten breit.
    Ich schaute weg. Es war verdammt heiß, einfach brutal.
»Ihr wart auch am Bahnhof, nehme ich an, und habt gesehen, was da los ist.« Es war keine Frage.
    Delilah strich mit der Hand über Hieros glatten Hals.
    »Ist der Junge krank?«, fragte Chip. Er ging vor ihm in die Hocke.
    Dann hob Hiero den Kopf, und wir sahen das Blut. Jemand hatte ihm die Nase eingeschlagen, in seiner Lippe klaffte ein Riss.
    »Scheiße«, murmelte Chip. »Lass mich mal sehen.«
    »Ist gut«, sagte Delilah. »Ich habe die Wunde schon saubergemacht, so gut es eben ging.«
    Ich starrte den Jungen an. So wie er da saß mit schief hängendem Kopf, sah er aus, als hätte er den ganzen Tag lang gesoffen.
    Chip verzog das Gesicht. »Was ist passiert? Hat ihn jemand für einen Afrikaner gehalten?«
    Delilah nickte. »Der Typ dachte, er ist ein Soldat aus dem Senegal. Ein Deserteur, der abhaut, statt Paris zu verteidigen.«
    Ich schaute auf die Straße, auf all die verängstigten Leute mit ihren lächerlichen Habseligkeiten. Wenn ein Stuka kommt, dachte ich, habt ihr keine Chance. Der mäht euch alle um wie Gras. Der kämmt euch aus wie Läuse.
    Chip sah mich nachdenklich an. »Was meinst du: Ist es vollkommen aussichtslos?«
    Der Menschenstrom stockte, staute sich vor einem liegengebliebenen Wagen und floss dann um das Hindernis herum. Männer schrien, Kinder weinten. Dieser ganze Plunder, den die Leute durch die Gegend karrten! Dieses scheußliche gelbe Licht überall!
    »Das bringt überhaupt nichts«, sagte ich.
    Chip nickte. »Das Einzige, was dabei rauskommt, ist, dass einen die Stukas irgendwo weiter draußen abknallen, wo nicht mal jemand da ist, der einen beerdigt.«
    » Darum machst du dir Sorgen? Um deine Beerdigung?«
    Er lächelte düster. »Ich mach mir um gar nichts mehr Sorgen, Mann.«
    »Wir kehren um, Hiero und ich«, sagte Delilah leise. »Wir gehen wieder nach Hause.«
    Wir drehten uns um und starrten sie an. Sie saß da, einen Arm um die mageren Schultern des Jungen gelegt. Er fing an zu husten.
    »Die Deutschen knallen jeden ab, den sie finden.« Chips Stimme klang kalt. »Und trotzdem willst du umkehren? Ist das dein Ernst?«
    Sie sah den Jungen traurig an. »Das war eine blödsinnige Idee. Man darf sich nicht verrückt machen lassen. Wenn du die Nerven verlierst, bist du verloren. Ich weiß nicht, was wir machen werden, aber das hier ist hoffnungslos. Die Deutschen werden mit ihren Flugzeugen kommen und alles wegfegen, was sich auf der Straße bewegt.«
    Wir wussten alle, dass es sinnlos war. Man kann nicht vor einem Krieg weglaufen, er ist einfach zu schnell.
    Und so machten wir uns auf den Weg zurück nach Paris. Immer am Straßenrand entlang gingen wir gegen den Strom der Flüchtlinge. Die Leute schienen uns kaum zu bemerken. Keiner von uns redete. Das gelbe Licht fühlte sich drückend schwer an. Wir gelangten wieder in die Stadt, gingen durch verlassene Straßen, vorbei an lauter geschlossenen Rollläden, bis wir schließlich nach Montmartre kamen. Müde stiegen wir die Stufen hinauf zwischen den dunklen, öden Häusern.
    Als wir am Bug vorbeikamen, sah ich unser Spiegelbild im Fenster. Unsere Gesichter waren verschwommen, wir schienen zu schweben wie Gespenster.

    Am nächsten Tag ging die Sonne

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