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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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Arschloch!«
    In dem wilden Gewühl wurden wir weitergeschoben, der Mann blieb zurück. Ich sah Blut auf Chips Kragen, sein Hemd war aufgerissen.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, schrie ich.
    »Was?«
    »Alles in Ordnung?«
    Er zuckte nur die Achseln und drängte weiter vorwärts.
    Von Lilah und Hiero war nichts zu sehen. Keine Spur. Da waren tausende von Leuten, und wir waren noch nicht einmal in der Nähe der großen Eingangstore. Wir kamen nicht weiter voran, das Gewühl war einfach zu dicht. Wir standen da in der brutalen Hitze, schweißnass, ohne einander anzuschauen. Meine Augen brannten, ich zwinkerte hektisch. Da spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter und drehte mich um.
    Irgendwie hoffte ich, es könnte vielleicht Delilah sein. Aber es war eine fremde junge Frau, die ein Kleinkind hoch über ihrem Kopf hielt. Sie schrie etwas auf Französisch.
    »Englisch?«, rief ich. »Sprechen Sie Englisch?«
    »Le bébé«, sagte sie, »passez-lui aux portes.«
    »Was?«
    Ein großer Mann mit einem blauen Hemd drehte sich nach uns um. Er schrie etwas.
    »Le bébé«, sagte die Frau. »Ils les laissent passer à la salle d’attente. C’est trop dangereux pour eux ici.« Sie wartete nicht auf eine Antwort von mir, sondern drückte mir einfach dieses weiche, feuchte Bündel in den Arm und fuchtelte über ihrem Kopf herum, um mir zu verstehen zu geben, dass ich das Baby nach vorn weiterreichen sollte. Es fing zu schreien an. Ich reichte es weiter.
    »Scheiße«, schrie Chip nach einer Weile. »Das bringt überhaupt nichts. Wir kommen nicht durch.«
    Er setzte sich mit mir im Schlepptau wieder in Bewegung, drängte sich zwischen all den feuchten Schultern durch. Ich stolperte über etwas Weiches auf dem Boden. Ich sah hinunter und erschrak: Da lag ein Frau und versuchte ihr Gesicht mit schmutzigen Händen zu schützen. Bevor ich ihr die Hand hinstrecken konnte, hatte ein Mann neben mir ihr schon aufgeholfen, und wir wurden weitergeschoben. Um mich herum ein Meer von keuchenden Gesichtern, Frauen, die irgendwelche Bündel umklammert hielten, Männer mit Koffern vor der Brust. Die Luft war heiß und feucht, und mit jedem Schritt, den ich tat, spülten neue Gerüche wie Wellen über mich hinweg. Zwiebelgestank, gebratene Auberginen, etwas faulig Bitteres wie Leder. Und über allem schwebte ständig der stechende, beißende Gestank von Pisse.
    Irgendwann schafften wir es aus dem Gewühl ins Freie. Ich riss mich von Chip los, beugte mich vor und begann zu würgen. Mir war schlecht von all der Angst dieser Leute.
    »Komm, Mann.« Chip rang nach Luft. »Wir müssen ei
nen anderen Weg finden. Das hier ist noch gar nichts, verglichen mit dem, was passiert, wenn die Deutschen erst mal da sind.«
    Sobald wir den Bahnhof hinter uns gelassen hatten, war es geradezu überwältigend still, kein Mensch war auf den Straßen zu sehen. Wir gingen in Richtung Boulevard Saint-Michel, wo in den vergangenen Wochen all die Flüchtlinge aus dem Norden durchgezogen waren. Wir hörten die Menschenmassen, bevor wir sie sahen; es war ein ungeheurer Lärm. Tausende von Parisern flohen nach Süden, ein Strom von Menschen mit ihrem Gepäck, dazwischen mit Kisten und Koffern beladene Schubkarren und Fahrräder. Autos fuhren im Kriechtempo dahin, auf den Dächern Matratzen, die die Insassen vor Geschossen von Stukas schützen sollten.
    Man konnte hier kein Geschützfeuer hören, nur die Menge. Die Menschen zogen stadtauswärts, an Autos vorbei, denen der Sprit ausgegangen war, an Lastwagen mit kaputten Reifen. Ein Geruch von versengtem Gummi lag in der Luft. Autotüren standen offen, auf den Rücksitzen lag die zurückgelassene Ladung: kaputte Wanduhren, Suppenlöffel, Kisten mit Salzhering. Ein umgestürzter Karren mit gebrochener Achse am Straßenrand, ein totes Pferd, das bereits zu stinken begann in der Hitze. Aus den Gesichtern der Leute war stummer Schrecken zu lesen, eine wilde Verzweiflung, die sie vorwärtstrieb.
    Chip und ich ließen uns von diesem Strom mitreißen. Wir hatten nichts von zu Hause mitgenommen, kein Wasser, nichts zu essen. Schon jetzt war mir klar, dass das Ganze der reine Irrsinn war. Ich hatte Kopfweh. Chip kniff die Augen zusammen und schnitt Grimassen. Ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit breitete sich in mir aus. Eine alte Frau mit krum
mem Rücken überholte uns; sie zog einen Leiterwagen, in dem ihr gelähmter Mann saß. Ich schaute weg.
    Chip zupfte mich am Ärmel und zeigte hinüber zur anderen Seite des

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