Spiels noch einmal
flüsterte er. »Tante Cecile ist schon seit Jahren total verkalkt. Hat ein Gedächtnis wie ein Sieb. Aber sie weiß nichts davon, und wir dürfen es ihr nicht sagen.«
»Wer sind Arnie und Theo?«
Chip kicherte. »Ihre Söhne. Die sind schon längst gestorben. Ich hab das nur gesagt, weil sie sonst keine Süßigkeiten rausrücken würde. Ich hab dich mitgenommen, damit sie uns eine doppelte Portion gibt.«
Ich stand da in dem dunklen Flur und starrte ihn an. Dieser Typ betrog seine eigene Tante und grinste noch frech dazu.
Er schaute mich an. »Magst du das nicht?«
Ich stopfte die Süßigkeiten in mich hinein. Das Zeug schmeckte wie Kreide.
Ich weiß nicht, wie lange ich da ging. Meine Hände zitterten wie blöd, so eine Mordswut hatte ich. Dieser gottverdammte Scheißkerl. Chip Drecksack Jones. Ich bog in die nächste Straße ein, ging unter den neuen Straßenlampen immer weiter an den geparkten Autos entlang, nur weg von diesem verfluchten Theater.
In einer kleinen Grünanlage ohne Bäume machte ich Halt. Ich schleppte mich über den kurz geschorenen Rasen und setzte mich auf eine kalte Bank. Meine Knie taten mir weh. Ein eisiger Wind blies. Die ganze Stadt wurde umgekrempelt. Baukräne zeichneten sich wie kaputte Brücken vor dem schimmernden Berliner Himmel ab. Ich bückte mich, massierte meine schmerzenden Beine. Meine Blase drückte. Ich brauchte eine Toilette. Ich stand wieder auf.
Es ist nicht schön, wenn man alt wird. Und in dieser Nacht spürte ich mehr als je in einer anderen, dass ich alt wurde.
Chip Jones war ein Scheißkerl. Das stand fest. Aber in dieser Weise bösartig war er vorher niemals gewesen. Fies, boshaft, taktlos, das ja – aber das hier war etwas anderes. Es fühlte sich an wie eine großflächige Wunde, die keine Ruhe gab. Es brannte und brannte immer weiter. Etwas, das meine Mutter gesagt hatte, kam mir wieder in den Sinn – ich hatte all die Jahre nie mehr daran gedacht. Sie sagte immer zu mir: »Sid, dieser Chip Jones hat kein Licht in den Augen.« Das hatte mich geärgert, weil ich dachte, meine Mutter halte Chip für dumm. Erst jetzt, siebzig Jahre später, als ich durch diese Anlage in Berlin stapfte, verstand ich endlich, was sie damit gemeint hatte.
Die Kneipe, die ich fand, roch nach Spülwasser und Kohl, es gab viel billiges lasiertes Holz und klebrige Sitzpolster aus Kunstleder. Es war mir egal. Ich trat durch die Messingtür und verzog das Gesicht. Nur zwei Gäste waren da, ein Mann und eine Frau, die an einem schummrig beleuchteten Tisch an der Wand saßen. Ich nickte der Bedienung hinter der Theke zu, einer mageren Frau mit Haaren wie abgestorbenes Gras, setzte mich an die Bar und schlug die Speisekarte auf. Ich hatte keinen Hunger.
Die Bedienung kam her, und ich bestellte eine Wurst mit Sauerkraut und Salzkartoffeln.
»Wo ist die Toilette?«, fragte ich.
Gedankenverloren führte sie ihren Kugelschreiber an ihre Zähne und kippte ihn dann träge, sodass die Spitze zum anderen Ende der Theke wies.
Kaum war ich wieder zurückgekommen, hörte ich die Kette an der Tür der Kneipe klirren, und der Stuhl neben meinem wurde von großen grauen Händen herausgezogen.
»Du gottverdammtes Arschloch«, sagte ich, ohne auch nur den Kopf zu drehen.
»Mann, Sid«, sagte Chip etwas außer Atem, »das hätte er wirklich nicht tun dürfen.«
»Du willst dich hierher setzen? Zu mir? Hau bloß ab.«
Er streckte die Hände vor sich hin, faltete sie. »Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll«, sagte er. »Ich hab das alles nie gesagt, ich schwör’s dir.«
Ich schaute auf und sah sein ratloses Gesicht. Er wirkte schuldbewusst, aber zugleich so, als ob er nicht recht wüsste, worin seine Schuld eigentlich bestand. »Hör mal, Chip, ich meine das ernst. Geh zum Teufel, ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.«
»Sid, ich wusste das nicht«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass das alles in dem Film vorkam.«
»Du hast mich umgebracht . Du hast mich überredet, mit dir hierher zu fliegen, und mich umgebracht.«
Die Bedienung beobachtete uns besorgt.
»O Mann, Sid.« Chips Augen waren ganz glasig, seine Lider zuckten.
Und dann fing er zu weinen an. Seine Schultern bebten, und die Haut unter seinem Kinn zog sich faltig zusammen, sodass es aussah, als hätte er sich ein schwarzes Halstuch umgebunden, und seine Schultern bebten.
Ich fluchte und schaute weg.
»Mann, Sid«, murmelte er, »Mann, Sid.«
Ich schwieg. Mit dem Kerl rede ich nie wieder ein Wort, dachte
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