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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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genialen Musiker zu verleugnen, einen jungen Kerl, wegen einer Frau. Weil der Junge so begabt war und wegen einer Frau. Er hat seinen Freund verraten, stand da und tat so, als wüsste er nicht mal, wer das ist, als sie den armen Jungen abführten. Ich sage nicht, dass er das alles geplant hat, das will ich nicht behaupten. Aber wie er Hiero den Nazis ausgeliefert hat, der Gestapo, das ist wirklich …« Er schüttelte den Kopf. »Das ist einfach unglaublich, oder? Ich muss Ihnen nicht erklären, was das für die Geschichte des Jazz bedeutet. Es war eine Katastrophe. Ich meine, wir standen kurz davor, diese bahnbrechende Aufnahme zu machen, und da … Ja, sicher, wir haben immerhin diese Platte mit einer Version, die schon ziemlich gut ist, aber wenn man bedenkt, was daraus hätte werden können! Es ist ein Verbrechen.«

    Ich sage nicht, dass ich es vorausgesehen habe.
    Aber als ich Chip so reden hörte, verschwand schlagartig dieses Gefühl, dieser heiße Druck in meiner Brust, ja, es war, als wäre ich nicht mehr da. Schluss und fertig. Alles weg. Nur noch das Blut, das in meinem Kopf eingeschlossen war, das langsame dunkle Pochen tief drinnen.
    Ich schloss die Augen.
    Und dann wachte ich in einem anderen Raum auf, einem kühlen Raum, der mir total fremd war. Vor den Fenstern eine Straße im alten Baltimore, die ich kaum wiedererkannte.
Ich lag in einem Bett in den feuchten Laken einer Frau, die nicht meine Ehefrau war. Der Raum war so weiß wie ein Weizenfeld in der Morgensonne, der Körper der Frau strömte einen trockenen Aschegeruch aus. Ich wollte mich zu ihr umdrehen, ihre zierlichen Glieder umfassen so wie Stunden vorher, die Stelle unterhalb ihrer Kehle küssen, wo die Schlüsselbeine zusammenstießen, und ihre feuchten schmutzigen Locken. Aber ich tat es nicht. Etwas Fauliges stieg in mir auf. Auf dem Nachtkästchen Staub, ein halb volles Glas Wasser. Draußen schrien Möwen. Ich lag da, tief unglücklich, und dachte an meine Frau.
    Dann war ich wieder in diesem Theater. Die Luft war schwer und heiß. Es herrschte eine Stille, die auf den Wangen brannte. Ich fasste die Armlehnen und wuchtete mich hoch aus dem knarzenden Sitz. Der Film lief immer noch, das Theater war pechschwarz, aber selbst im Dunkeln sah ich, dass alle Augen auf mich gerichtet waren, und das Gewicht ihrer Blicke lastete auf mir wie ein Sack voller Asche.
    Unser Betreuer flüsterte: »Zuerst wird der Film gezeigt, anschließend gehen alle aus Ihrer Reihe nach vorn.« Aber ich hörte nicht zu.
    Meine verdammten alten Beine funktionierten nicht richtig. Ich spürte, wie mein Herz Blut durch die Arterien pumpte, wie mein ganzer Körper bebte. Schau bloß nicht in Chips Richtung, dachte ich. Keinen einzigen flüchtigen Blick, Sid. Ich stieg entschlossen über die Knie des Betreuers, vorbei an den Beinen der anderen Leute, an denen von Caspars.
    Caspars beugte sich vor. »Was zum Teufel soll das?«, zischte er.
    Ich stand da, benommen und zitternd. Ich fühlte mich plötzlich alt. Ich zitterte und schwieg.
    Verdammter Feigling, dachte ich. Ja, du bist ein Feigling, Sid.
    Nein, ich sagte nichts. Ich ging einfach weiter, langsam, durch den Mittelgang. Die Stille stach auf mich ein wie Stecknadeln. Die Leute beobachteten mich und schauten nicht auf die Leinwand, und ich spürte ihre Blicke. Mein Gesicht war schwer, eine Last, die ich schleppen musste und die ich nicht absetzen konnte.
    Niemand sagte etwas. Dann zischte aus dem Dunkel plötzlich irgend so ein Scheißkerl auf Deutsch: »Schämen Sie sich!«
    Ich hielt kurz inne, starrte auf die bleichen Gesichter in den Sitzreihen. Dann ging ich weiter.
    Ich stürzte aus dem Saal, durchs Foyer, hinaus in die Nacht. Die kühle Luft der Stadt schlug über mir zusammen. Ich stand auf dem leeren Platz.

    Schon mit zehn konnte Chip lügen wie ein Alter. Ein richtiger Pinocchio. Ich erinnere mich noch an den Samstag, an dem ich ihm zum erstenmal begegnete. Es war schwül in Baltimore, Abwassergestank lag in der brodelnden Luft. Aus den heißen Gullys waberte fauliger Dampf, den man wie Krümel im Hals spürte. Ich saß in dem Park, wo wir Schwarze immer hingingen, zusammen mit meiner Schwester Hetty. Sie hatte den Hut aus Philadelphia auf, den sie nie abnahm, weil unser Papa ihn ihr geschenkt hatte. Sie ärgerte mich die ganze Zeit. Sie behauptete, dass ich schielte und krumme Beine hätte. Als ein Junge in einem braunen Overall daherkam und sich im Sandkasten nicht weit von uns niederließ, spuckte ich

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