Spiels noch einmal
Wirklichkeit war. Ich beobachtete ihn, wie er ein Stäubchen von seinem schicken blauen Anzug wegwischte, und da sah ich ihn einen Moment lang so, wie ihn jede verdammte Tussi in diesem Straßenbahnwagen sah: hübsch, athletisch, ein maskulin willensstarkes Kinn, die Augen so blau wie griechische Seide. Der perfekte Arier. Und er war Jude.
»Hör mal, Sid«, sagte er. »War dein Angebot vorhin ernst gemeint? Du weißt schon: dass du morgen für mich einspringst?«
»Kommt darauf auf: Bei Martha oder bei Inge?«
Er zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Eher bei Martha.«
»Wenn es Inge ist, bin ich dabei.«
»Dann eben Inge, es ist mir eigentlich egal.«
Die breiten Straßen lagen jetzt ganz im Schatten, die grünen Linden standen dunkel vor dem wolkenlosen Himmel. Die Straßenbahn hielt, Leute stiegen aus, andere ein, die Tram fuhr wieder an. Wir waren auf dem Weg zum Hound , um ein paar Stücke mit dem Jungen einzustudieren, obwohl mir das ziemlich sinnlos vorkam. Wir hatten ja Auftrittsverbot und durften nicht spielen. Wenn nicht Ernst der Besitzer des Hound gewesen wäre – eines Clubs, den sein Vater ihm gekauft hatte und in dem wir eine Art Asyl gefunden hatten –, hätten wir vielleicht nicht einmal mehr zum Privatvergnügen gespielt. Na ja, das dann doch nicht, aber es fehlte wirklich nicht mehr viel. Der Club war schon seit Monaten geschlossen und nur noch ein Raum, wo wir rumhingen und ein bisschen übten.
Meine Augen wanderten wieder zum Fenster. Ich beobachtete die Spaziergänger draußen, Männer in Hemdsärmeln, Mädchen auf Fahrrädern. Wir kamen an einem dicht belebten Platz vorbei, Leute saßen im Freien an Tischen, tranken
Kaffee und aßen Kuchen, als ich ein bekanntes Gesicht entdeckte.
Ich fuhr hoch. »Das da ist doch Ernst, oder?«, sagte ich.
Der Mann sah jedenfalls so aus – er hatte das pechschwarze Haar von Ernst, seine Haut, die so blass war, dass die Venen durchschienen, als wären sie mit einem Stift aufgemalt. Er unterhielt sich mit einer Frau; ich sah ihn gestikulieren, zwischen zwei Fingern eine fast ganz heruntergebrannte Zigarette. Die Frau kannte ich nicht.
»Was? Der da?«, sagte Paul. »Nein, das ist er nicht.«
»Natürlich ist das Ernst. Schau doch mal genau hin.« Wir waren jetzt direkt auf Höhe des Tischchens, an dem die beiden saßen. Die Frau hatte ein großes graues Tuch um den Kopf geschlungen und mit etwas festgesteckt, das wie eine hässliche Messingbrosche aussah. Sie war dürr wie eine Zaunlatte, und als sie lächelte, sah ich ganz deutlich eine Reihe sehr kleiner, sehr schiefer Zähne. Die Straßenbahn rumpelte weiter.
»Wo?«, fragte Paul stirnrunzelnd.
»Da drüben. Bei der Frau mit diesem zugehängten Vogelkäfig auf dem Kopf. Hast du ihn nicht gesehen?«
Paul drehte sich um und spähte angestrengt durchs Fenster nach hinten raus, bis wir so weit weg waren, dass er wirklich nichts mehr erkennen konnte. »Das war er nicht«, sagte er entschieden. »Was sollte er mit so einer Tussi?«
»Wieso nicht?«
Paul schob den Unterkiefer vor, bleckte die Zähne und wand sich mit der Hand einen imaginären Turban um den Kopf.
Ich lächelte. »Na ja, es kommt eben immer drauf an, was man ausgeben will: Qualität hat ihren Preis.«
»Dann muss das Verhältnis zu seinem Vater aber verdammt schlecht geworden sein, wenn Ernst sich nichts Besseres mehr leisten kann.«
Die Straßenbahn hielt, die Glocke läutete, dann fuhr sie wieder an. Ein älterer Mann war eingestiegen, klein und schmächtig, ein Parteiabzeichen an der Jacke. Wir verstummten. Als er mich sah, wurde sein Gesicht düster, aber dann fiel sein Blick auf Paul, und seine Züge entspannten sich. Der gute alte Paul, ein Arier von echtem Schrot und Korn. Der Typ schaute auf seine Taschenuhr.
Er setzte sich auf die Bank gegenüber, seine altersfleckige Hand auf den Knien. Die Abendsonne schien durchs Fenster hinter ihm und blendete mich, sodass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte.
»Wenn das Wetter so bleibt, haben wir dieses Jahr noch im November Sommer«, sagte er heiter.
Ich sagte nichts.
Es dauerte einen Moment, bis Paul reagierte. »Das kann man nur hoffen.« Ich spürte, dass er sich bemühte, all seinen Charme aufzubieten. Er schenkte dem Mann ein strahlendes Lächeln.
»Sie sind nicht in Uniform«, sagte der Mann.
»Noch nicht.« Paul warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.
Der Mann schien zu überlegen. Dann fragte er leise: »Wissen Sie was?«
»Haben Sie was gehört?«, fragte Paul
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