Spiels noch einmal
zurück.
»Es geht los, nicht?« Der Mann beugte sich vor. »Es gibt nirgends mehr Pferde zu kaufen. Meine Frau meint, das hat nichts zu bedeuten. Aber es wird jetzt wirklich ernst, nicht?«
»Die ganze Zeit schon«, sagte Paul. »Wir müssen vorbereitet sein.«
»Die Briten wollen es nicht anders.«
»Die Briten sind Schwächlinge«, sagte Paul.
»Ja«, sagte der Mann. »Ja.«
Ein Stückchen Petersilie klebte an seinen Zähnen. Ich starrte es mit fasziniertem Ekel an. »Wir fangen keinen Krieg an«, murmelte er, »aber wenn es sein muss, kämpfen wir unter unserem Führer bis zum Ende.«
Mein Mund war ganz trocken. Ich langte nach oben und zog an der Leine, um dem Fahrer zu signalisieren, dass wir an der nächsten Haltestelle aussteigen wollten. Wir standen auf, suchten Halt an der Messingstange. Die Straßenbahn kam ruckend zum Stehen.
»Heil Hitler«, sagte der Mann.
»Heil Hitler.« Paul lächelte freundlich.
Wir stiegen aus und gingen den Rest des Wegs bis zum Hound zu Fuß. Paul zitterte. Ich dachte zuerst, das ist der Schrecken, aber dann sah ich sein Gesicht: Er kochte vor Wut.
Ich sagte nichts. Ernst hatte uns schon vor Monaten braune »arische« Ausweise besorgt, aber wirklich sicher fühlten wir uns deswegen noch lange nicht. »Macht einfach keine Dummheiten«, hatte er gesagt. »Ihr dürft keine Aufmerksamkeit erregen. Die Ausweise sind gut gemachte Fälschungen, aber sie sind nicht perfekt.«
Auf diese Weise waren wir immer durchgekommen. Aber Durchkommen ist nicht alles. Manchmal war uns zumute, als hätten wir uns selber aufgegeben, bloß um durchzukommen.
Ernsts Club, das Hound , war schon vor langem als ein Ort der Unkultur und Entartung geschlossen worden. »Entartung«, das meinte uns. Es war noch nicht völlig verwahrlost, es gab immer noch fließendes Wasser, ordentliche Fußböden, eine großartige Beleuchtung. Man schritt über roten Velour die Treppe hinauf in ein Foyer, in dem überall Messing und Spiegel blinkten – na ja, den Teppich hatte Ernst inzwischen verkauft; er musste schließlich uns alle ernähren. Es war uns egal, dass in den Wänden Ratten hausten und dass an manchen Tagen das Wasser rostig braun aus den Hähnen floss. Für uns, für Ernsts Hot-Time Swingers, war die Bühne des Hound unser Zuhause.
Als Paul und ich reinkamen, war der Junge schon da und blies seine Tonleitern. Es war immer irgendwie unheimlich, wenn wir in unvollständiger Besetzung ohne Chip spielten. Klar, eine Band kann auch ohne Schlagzeug gut sein, aber es fühlte sich einfach nicht richtig an. Wie wenn man aufwacht und feststellt, dass einem jemand im Schlaf den Blinddarm rausgenommen hat. Es fehlte einfach was.
Eine halbe Stunde später waren wir immer noch auf der Bühne, der Junge und ich und Paul hinter seinem Klavier, alle drei in Hemdsärmeln. Ich spielte, aber der Junge setzte nicht ein, er starrte mich nur die ganze Zeit an und bewegte dazu rhythmisch die Hand, als wollte er mir den Takt vorzählen. Irgendwann wurde es mir zu blöd, ich hörte einfach auf und legte die Arme auf meinen Bass.
»Hey, Mann, was soll das?« Ich wischte mir mit dem Taschentuch über den Hals. Es war heiß. »Was passt dir nicht?«
Hiero sah Paul an, fast erschrocken.
»Also, was ist?«, sagte ich. »Wo ist das Problem?«
Der Junge zuckte die Achseln.
»Hiero«, sagte Paul, »was ist los? Sid ist drauf und dran, alles hinzuschmeißen.«
»Tut mir leid«, murmelte er. »Ich versuch nur, ihn dazu zu kriegen, dass ihm die Passage unter die Haut geht.«
Paul lächelte müde. »Sid, dieser Junge bringt dich ins Grab.«
Er unterstrich diese Prophezeiung mit einem tiefen Akkord auf seinem Klavier.
Der Junge stand einfach da und wartete. Er warf mir einen verstohlenen Blick zu.
»Also gut«, sagte ich. »Noch einmal die Überleitung. Ist dir das recht?«
Der Junge glotzte dümmlich.
»Ihr beiden versucht es noch einmal. Ich mach so lange Pause.« Paul zündete sich eine Zigarette an.
Hiero und ich machten alleine weiter. Und dieses Mal spürte ich, was der Junge gemeint hatte. Es fühlte sich an, als wäre der Junge irgendwie zwischen meine Saiten gekrochen und drückte dagegen, während ich drüber weg spazierte. Dabei fixierte er mich die ganze Zeit. Dann setzte er die Trompete an und blies seinen Part, und so spielten wir die ganze Passage durch, bis auch Paul mit dem Klavier wieder einsetzte.
Aber es war ein verdammt komisches Gefühl, als der Junge mich zwang, noch einmal von vorn anzufangen.
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