Spiels noch einmal
stieg ich die knarzende alte Leiter hinauf. Meine Rippen taten mir weh, als ich zu der hölzernen Plattform hinüberstieg. Delilah sah mich an, dann schaute sie weg. Sie saß an das Geländer gelehnt und trug jetzt einen großartigen goldenen Turban. Der Stoff schimmerte jedes Mal, wenn sie den Kopf drehte.
»Sie haben eine neue Kopfbedeckung«, sagte ich.
Sie zuckte niedergeschlagen die Achseln.
»Alles in Ordnung mit Ihnen? Uns wird schon nichts passieren, keine Sorge.«
»Ernst hat Angst. Das sehe ich ihm an.«
»Quatsch, Ernst hat vor gar nichts Angst. Außer wenn Chip auf seiner Klarinette loslegt. Aber das jagt uns allen Schrecken ein.«
Sie sah mich nicht an. »Wo kommt er her?«
»Wer?«, fragte ich. Ich folgte ihrem Blick: Sie beobachtete den Jungen, der einen alten Koffer auf eine Seite der Bühne schleppte. Aus dieser Höhe wirkte er klein und verletzlich. »Hiero? Der ist aus Köln, glaub ich.«
Sie drehte sich um und musterte mich. »Ich meine: Wo ist er hergekommen? Ist er aus dem Nichts erschienen, ohne
dass er vorher schon mal mit irgendjemandem gespielt hätte, einfach so aufgetaucht?«
Ich hätte am liebsten gefragt: Wie einfach so?, aber ich wollte ihre Antwort darauf nicht hören.
Sie schüttelte ihren Kopf, ihre langen Wimpern zugeklappt. »Lou war wie er, als er jung war. Würden Sie sagen, Lou habe Talent? Kann man das noch Talent nennen, wenn es ohne jede Förderung, ganz von selbst, aufblüht? Das muss doch was anderes sein.«
So wie sie es sagte, klang es, als wäre Talent was Minderwertiges. Ich spürte was Saures und Raues in meiner Kehle. Ich legte meine zerschundenen Hände auf die ungehobelten Bretter.
»Paul hat ihn angeschleppt«, sagte ich nach einer Weile. »Er hat ihn entdeckt.«
»So was entdeckt man nicht.«
Ich rutschte verlegen hin und her.
»Was hat er in Köln gemacht?«
Ich zuckte die Achseln. »Paul war dort zu Besuch bei seiner Tante. Und da hörte er durch ein Fenster auf der anderen Straßenseite jemanden Trompete spielen. Seine Tante sagte etwas in der Art: Ach, das ist nur der kleine Falk. Der arme Junge ist schwarz. So oder so ähnlich. Paul ging sofort rüber, er nahm sich nicht mal die Zeit, seine Schuhe anzuziehen.«
»Der arme kleine schwarze Junge«, murmelte sie. »Mein Gott, stellen Sie sich vor, er hätte nicht zufällig gerade geübt.« Sie warf mir einen Blick zu. »Aber vielleicht hätte er trotzdem seinen Weg gemacht. So eine Begabung sticht doch immer heraus, glauben Sie nicht?«
»Na ja, er ist wirklich gut«, sagte ich vorsichtig. »Ich bin
bloß nicht sicher, ob er schon so weit ist, dass er herausstechen will.«
Ihre schimmernden Augen wurden schmal. »Er ist der beste Trompeter, den ich je gehört habe, Lou ausgenommen. Das ist wirklich wahr. Er wird noch berühmt sein, wenn wir beide längst vergessen sind, Sid.«
In ihren Worten klang keine Trauer, kein Bedauern, nur glühende Begeisterung. Verdammt, mir war ganz elend. Ich rieb mir die schmerzenden Rippen und starrte hinunter zu dem Jungen. Er hatte jetzt eine blonde Perücke in der Hand, setzte sie auf, drehte sich hin und her, knickste, wiegte sich kokett in den Hüften. Dann nahm er sie ab und stöberte weiter in dem Koffer.
»Was ist mit Ihnen und Hiero?«, fragte ich. In meine Stimme hatte sich ein säuerlicher Ton eingeschlichen.
Sie sah mich leicht befremdet an. »Was meinen Sie damit?«
»Nichts, gar nichts. Mir ist nur aufgefallen, dass Sie ihn andauernd beobachten.«
»Oh.« Sie starrte nachdenklich hinunter auf die Bühne.
»So wie jetzt«, sagte ich.
Sie blickte auf und lächelte abwesend.
Was ich wirklich dachte, war, dass der Junge vielleicht genau wusste, dass sie da oben saß. Vielleicht machte er sich nur deswegen an dem blöden Koffer zu schaffen, weil er wollte , dass sie ihn beobachtete. Ein ganz gerissener Schweinehund.
»Wissen Sie, er spricht wie wir«, sagte ich unvermittelt, ich wusste selbst nicht so genau, warum.
Sie missverstand mich. »Er spricht Englisch?«
»Nein. Nein, ich meine sein Deutsch. Es ist eine ganz sonderbare Mischung. Als ob er unseren, meinen und Chips, Ak
zent nachahmen würde. Als ob er keine eigene Art zu sprechen hätte. Und so ähnlich verhält er sich auch beim Trompetespielen.«
Drunten in der Kulisse setzte er sich jetzt meinen Hut auf, rückte ihn mit einem Finger verwegen schief. Verdammt, was stellte er mit meinem Hut an? Er machte einen leichten Buckel – genau meine Haltung! Sein Anzug war schmutzig.
»Er
Weitere Kostenlose Bücher