Spiels noch einmal
gleichgültig die Achseln. Er steckte das Buch weg, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Ich beobachtete ihn eine Weile, dann schaute ich wieder durchs Fenster. Das ganze Polen zog da draußen vorbei, seine Klippen und Flüsse. Ich musste andauernd an den Dokumentarfilm denken und an das, was ich über Hiero erfahren hatte. Dass diese Geschichte von seinem Vater, der angeblich ein Prinz gewesen war, gelogen war, dass er sein ganzes Leben fehl am Platz gewesen war. In seiner Jugend in Köln war er andauernd verspottet worden, die Leute hatten ihn Schornsteinfeger genannt, Affenbaby, schwarzer Chinese wegen seiner Schlitzaugen.
Und dann sollte er nach dem Krieg das alles noch mal freiwillig auf sich genommen haben. Das gab einfach keinen Sinn. Aber er hatte auch früher nie das gemacht, was man erwartete, schon als Junge nicht. Er hatte sich in sich selbst zurückgezogen und abgewartet, bis die Hänseleien vorbei waren. Ich hatte es selbst gesehen, ich wusste es noch genau.
Er hat nie zugeschlagen, meistens hat er sich nicht mal mit Worten gewehrt. Er war wie ein Schatten.
Vielleicht ein Schatten seines Vaters. Florian hieß sein Vater, der blonde Florian Falk, wenn Caspars’ Dokumentation nicht aus lauter Lügen besteht. Er war natürlich nicht Hieros richtiger Papa. Eine typische Kriegsgeschichte, aber eine mit einem sonderbaren Knick. Florian kam heim aus dem Weltkrieg und musste feststellen, dass seine Liebste einen anderen geheiratet hatte. Und dann heiratete er ihre Schwester Marianne, die von einem anderen schwanger war. Sie war schön und nett, das schon, aber eben aus zweiter Hand, sozusagen. Sie war immer schon ein bisschen komisch gewesen, kein Mensch wusste so recht, warum. Ihre Schwester ging zu Florian und sagte ihm, sie sei von einem französischen Soldaten vergewaltigt worden und er sollte den Lückenbüßer machen, das wäre ein gutes Werk. Na ja, sein Herz war sowieso gebrochen, also, warum nicht? Wahrscheinlich hatte er sogar vor, das Kind als sein eigenes anzunehmen – man muss die Dinge nicht mit Gewalt kompliziert machen, wird er sich gedacht haben.
Aber ein paar Monate nach der Hochzeit kam dann der süße schwarze Hiero auf die Welt.
Caspars behauptete, er wisse, wer der wirkliche Vater war. Er soll zwei Meter groß und kohlrabenschwarz gewesen sein. Aber er war kein Vergewaltiger. Er war ein Kolonialsoldat aus dem Senegal und gehörte zu den französischen Besatzungstruppen im Rheinland. Und Marianne Falk hatte ihn offenbar geliebt.
Der Bus wurde langsamer und bog mit knirschenden Reifen ab auf einen schlammigen Parkplatz und hielt vor etwas, das
wie eine Art ziemlich heruntergekommenes Rasthaus aussah. Ein kleiner Junge saß mit seinem Großvater vorn im Bus, der alte Mann schwankte, als der Bus um die Kurve fuhr. Der Junge drehte sich immer wieder nach uns um und starrte uns an wie Wesen von einem anderen Stern. Schau nur, Junge, dachte ich, sieh dich satt.
Sonst waren keine Fahrgäste mehr da, nur die beiden und wir.
Der Fahrer bremste, das Fahrzeug kam mit einem Ruck zum Stehen, die Türen gingen auf. Er lehnte sich weit zurück in seinem Sitz und bellte ein paar kehlige Worte auf Polnisch.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich Chip.
Er lachte. »Pause, Mann. Hast du keinen Hunger?«
Unter einer blauen Plane, getragen von windschiefen Pfosten, von denen die Farbe abblätterte, standen klapprige Holztische. Wir gingen auf steifen Beinen hinüber und setzten uns. Die Speisekarte war ein einfaches Blatt Papier, alles auf Polnisch. Ich sah, dass Chips schicke Schuhe aus weichem Leder mit Schlamm verschmiert waren. Ich schüttelte den Kopf. Geschieht ihm recht, dachte ich. Neben dem Rasthaus gab es ein paar verwitterte Holzgebäude mit Vordächern, die von Pfosten gestützt wurden. Ich legte die Hände auf den Tisch und schaute Chip an. Er lächelte.
»Hübsches Plätzchen«, sagte er.
Die Sonne war nicht zu sehen, weißer Dunst verschleierte den Himmel. Schwärme von Schnaken, riesige gepanzerte Viecher, summten durch die kühle Luft. Ich schlug halbherzig auf meinen Hals und mein Handgelenk. An den Stellen, wo sie mich gestochen hatten, sah ich kleine blutige Pünktchen.
»Na ja, die müssen schließlich auch essen.« Chip schmunzelte. »Lass sie einfach.«
»Ist das eine Wirtschaft bloß für Schnaken? Oder kriegen hier Menschen wohl auch was zu futtern?« Ich schaute hinüber zum Busfahrer, der an einem Tisch auf der entgegengesetzten Seite mit dem Rücken zu uns saß.
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